Kalte Herzen
Nacht. In der Dunkelheit im Wasser zu strampeln, während auf dem Pier Männer auf und ab liefen und sich in einer Sprache etwas zuriefen, die er nicht verstand. Vor seinem inneren Auge sah er abgetrennte Zehen, Finger und in ganz Boston verteilte Leichenteile, was ihn an Skalpelle und Operationssäle denken ließ.
»Welche Verbindung hatte Boravoi zum Bayside?« fragte er.
»Das wissen wir nicht.«
»Er ist mit dessen Wagen gefahren.«
»Und der Van war beladen mit medizinischem Material«, ergänzte Lundquist, »im Gesamtwert von ein paar tausend Dollar. Vielleicht haben wir es mit Schwarzmarkthandel zu tun.
Boravoi könnte Komplizen am Bayside haben, die Medikamente und Vorräte abzweigen, und du hast ihn zufällig bei der Lieferung der Waren erwischt.«
»Was ist mit dem Frachter? Hast du mit dem Hafenmeister gesprochen?«
»Eigner des Schiffes ist eine gewisse Sigajew-Gesellschaft aus New Jersey. Der letzte Hafen, den der Frachter unseres Wissens angelaufen hat, war Riga.«
»Wo ist denn das?«
»In Lettland. Das ist irgendeine abtrünnige russische Republik.«
Wieder die Russen, dachte Katzka. Wenn es tatsächlich die Russen-Mafia war, hatten sie es mit Verbrechern zu tun, die für ihre schiere und blutrünstige Bösartigkeit bekannt waren. Mit jeder legalen Einwanderungswelle kam eine Schattenwelle von Gangstern, ein verbrecherisches Netzwerk, das ihren Landsleuten in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und der leichten Beute folgte.
Er dachte an Abby DiMatteo, und seine Besorgnis wurde auf einmal akut. Seit ihrem Telefonat um ein Uhr nachts hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen. Erst vor einer Stunde hatte er sie noch einmal anrufen wollen, doch als er ihre Nummer wählte, hatte er bemerkt, daß sein Puls sich beschleunigt hatte, und das Zeichen als das erkannt, was es war: Vorfreude. Eine freudige, vollkommen irrationale Erwartung, ihre Stimme zu hören. Das waren Gefühle, die er seit Jahren nicht empfunden hatte, und er begriff nur zu schmerzhaft, was sie bedeuteten.
Er hatte rasch wieder aufgelegt und die nachfolgende Stunde in wachsender Depression vor sich hin gebrütet.
Jetzt blickte er zum Pier. Zu Lundquist sagte er: »Ich will alles wissen, was es über diese Sigajev-Gesellschaft gibt. Mögliche Verbindungen zur Amity, zum Bayside-Hospital und so weiter.«
»Habe ich auf dem Zettel, Slug.«
Katzka ließ den Wagen an. »Ist dein Bruder immer noch bei der Küstenwache?«
»Nein, aber er hat noch Freunde da.«
»Frage auch bei denen mal nach. Finde heraus, ob sie in letzter Zeit an Bord des Frachters waren.«
»Das glaube ich kaum. Wenn er direkt aus Riga kommt …«
Lundquist unterbrach sich und blickte auf. Detective Carrier kam winkend auf sie zu.
»Slug«, rief Carrier, »hast du die Nachrichten wegen Dr. DiMatteo bekommen?«
Sofort macht Katzka den Motor aus. Doch das plötzliche Rauschen seines Pulsschlags konnte er nicht abstellen. Er starrte Carrier an und erwartete das Schlimmste.
»Sie hatte einen Unfall.«
Ein Essenswagen wurde über den Flur gerollt. Abby schreckte hoch und bemerkte, daß ihre Laken schweißnaß waren. Ihr Herz pochte noch immer von dem Alptraum. Sie versuchte, sich im Bett umzudrehen, mußte jedoch feststellen, daß es nicht ging: Ihre Hände waren fixiert und die Handgelenke schon ganz wundgerieben. Und dann wurde ihr mit einem Mal klar, daß sie gar nicht geträumt hatte. Dies war der Alptraum, ein Alptraum, aus dem sie nicht aufwachen konnte.
Mit einem verzweifelten Schluchzen ließ sie sich wieder auf das Kissen sinken und starrte an die Decke. Sie hörte das Knarren eines Stuhles und wandte den Kopf.
Katzka saß am Fenster. Im hellen Licht der Mittagssonne sah sein unrasiertes Gesicht älter und erschöpfter aus, als sie es je gesehen hatte.
»Ich habe sie gebeten, die Riemen zu lösen«, sagte er. »Aber man hat mir erklärt, daß Sie sich schon ein paar Kanülen zu viel herausgerissen haben.« Er stand auf und kam an ihr Bett, wo er stehenblieb und auf sie herabblickte. »Willkommen zurück, Abby. Sie sind eine junge Dame mit verdammt viel Glück.«
»Ich kann mich nicht daran erinnern, was geschehen ist.«
»Sie hatten einen Unfall. Ihr Wagen hat sich auf dem South Expressway überschlagen.«
»Ist sonst noch jemand …«
Er schüttelte den Kopf. »Sonst wurde niemand verletzt. Aber Ihr Wagen hat einen Totalschaden.« Es entstand ein Schweigen.
Sie bemerkte, daß er nicht mehr sie ansah, sondern auf einen Punkt auf ihrem Kissen
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