Kalte Macht: Thriller (German Edition)
nicht sehr clever, wenn wir die fragen?«
»Mit Sicherheit nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass es Freunde sind, die uns abhören, ist einfach zu groß. Sie haben immerhin die besten Möglichkeiten von allen.«
»Mit anderen Worten: Wir können niemandem mehr trauen.«
»Niemandem. Das ist das einzig Verlässliche.« Natascha seufzte und nahm ihren Glühwein. »Gott sei Dank haben wir uns«, sagte sie mit der zärtlichen Stimme müder Verzweiflung. Und sie erinnerte sich daran, wie die Kanzlerin ihr klargemacht hatte, wie wichtig es für sie sein würde, einen Vertrauten zu haben. Gott, hatte sie recht gehabt.
Plötzlich kam ihr ein schrecklicher Verdacht. »Wenn sie uns schon länger abhören, Henry …«
»Ja?«
»Könnte es dann nicht sein, dass das Verschwinden dieser Frau mit uns zu tun hat?«
»Wieso sollte es? Die interessieren sich doch nicht für …« Das Bild von Raus Chauffeur im Bordell kam ihm wieder in den Sinn. »Du meinst, sie hatte Kunden …«
Natascha sah ihm tief in die Augen. Er konnte den Horror erkennen, der in diesem Blick eingefangen war. »Sie wollte auspacken, Henry.«
Henrik Eusterbeck sog die Luft scharf ein. »Und wir haben die falschen Leute darauf aufmerksam gemacht.«
»Ja. Ich selbst habe Frey ihre Handynummer gegeben und ihn gebeten, die Adresse zu recherchieren.«
»Und was tun wir jetzt?«, fragte Henrik.
Eine Weile schwieg Natscha Eusterbeck. Dann sagte sie mit fester Stimme: »Zuallererst tun wir so, als wüssten wir nichts. Sollen sie uns ruhig zuhören. Was wir diskret zu besprechen haben, das besprechen wir nicht mehr zu Hause. So leid es mir tut, wir werden wohl bis auf weiteres in unseren eigenen vier Wänden nur noch wie Schauspieler leben …«
Henrik nickte. »Das müssen wir wohl. Vielleicht finden wir ja noch heraus, wer uns da angezapft hat. Irgendwann verrät sich jemand, da bin ich sicher.«
»Und bis dahin?«
»Bis dahin, mein Liebling, muss ich noch sorgfältiger hinterfragen, wer im Kanzleramt mit wem unter einer Decke steckt. Und wir werden uns nicht unser Leben zerstören lassen.«
*
Geheimdienste. Natascha lag im Bett und wagte kaum zu atmen. Es schauderte sie, wenn sie daran dachte, dass in diesem Augenblick irgendjemand an irgendeinem geheimen Ort saß und sie überwachte, auf jede ihrer Lebensregungen lauschte. Vielleicht liefen auch nur Bänder, vielleicht sprang die Aufnahme nur an, wenn ein bestimmtes Wort ausgesprochen wurde. Wenn sie zum Beispiel »geheim« sagte. Oder »vertraulich«. Es gab diese Programme, und sie wurden von den Diensten genutzt. Sie fragte sich, ob es auch Kameras gab. Doch die hätte sie immerhin irgendwo entdecken müssen. Kameras waren darauf angewiesen, freie Sicht zu haben. Also herrschte auch freie Sicht auf sie. Nachdem sie von ihrem nächtlichen Ausflug in die Diskretion der Öffentlichkeit zurückgekommen waren, hatte Natascha sich in der ganzen Wohnung umgesehen, hatte den Blick über die Decken und Wände, die Möbel, die Fußbodenleisten, die Lampen und Armaturen in Küche und Bad, die Heizungen, Thermostate, Rollläden und sonstigen Einbauten gleiten lassen. Doch da war nichts. Kein noch so winziger verdächtiger Fleck, kein Loch, keine spiegelnde Stelle. Sie hatte jeden Millimeter der Wohnung abgesucht, jede Vertiefung, jeden Spalt, jede Öffnung. Nein, offenbar hörten sie nur zu, wer auch immer sie waren. Aber sie schauten nicht zu. Und doch fühlte Natascha sich nackt. Nackt und gedemütigt. Es war, als wäre selbst die Luft, die sie umgab, schmutzig und böse.
Bonn, Bad Godesberg. Bundeskanzleramt. Büro des Bundeskanzlers. 31.10.1989, 8:40:09 Uhr.
Schweigen. Dr. Walther Brass ist allein. Er beobachtet den Zeiger seiner Uhr. Wie jeden Morgen hat Frau Meyer sie überprüft. Genau wie eine Atomuhr, geht es Brass durch den Sinn. Ihm fällt auf, dass er den Atem angehalten hat. Er steht auf, geht um seinen Schreibtisch herum, tritt ans Fenster und blickt auf die monströse Figur, die wie ein metallenes Mahnmal im Garten liegt. In der Mitte klafft ein Loch. Brass bleibt mehrere Minuten reglos stehen.
8:44:15 Uhr. Am Tor fährt eine dunkle Limousine vor.
ZEHN
D i e SMS erreichte Natascha Eusterbeck, als sie in Frankfurt landete. Krisengipfel. Wieder einmal. Eigentlich war das nicht ihre Baustelle. Aber da Dr. Frey wegen der Vorbereitungen der Sicherheitskonferenz in München unabkömmlich und vor allem Stephanie Wende zu geheimen bilateralen Verhandlungen in Moskau war, musste sie den Tross des
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