Kalte Wut
seiner Verfolgung so in Anspruch genommen, daß er die Kälte überhaupt nicht spürte.
Das unebene Kopfsteinpflaster zwang ihn zu langsamem Fahren.
Vor sich sah er die vertraute kleine, breitschultrige Gestalt, die gebückt rannte, den Mann, der wie ein Buckliger aussah und den er zum erstenmal von Manfred Hellmanns Bungalow in Berg aus durch ein Fernglas gesehen hatte.
Lucien hörte, wie der Motorradfahrer näherkam. Er war schon fast vorbeigerannt, als er ein großes Holzfaß sah, das zum Auffangen von Regenwasser vom Dach diente. Er ergriff es und erkannte an seinem Gewicht, daß das darin befindliche Wasser von oben bis unten zu massivem Eis gefroren war. Er brauchte seine ganze Kraft, um das Faß auf die Seite zu kippen und ihm dann einen Stoß zu versetzen, so daß es die abfallende Gasse hinunterrollte. Philip sah es kommen, wußte, daß es keine Möglichkeit gab, ihm auszuweichen, schaltete den Motor aus und sprang in dem Augenblick von der Maschine, als das Faß gegen das Motorrad prallte.
Er rannte dicht an den Häuserwänden entlang weiter, jetzt mit der Walther in der Hand, aber Lucien war nach rechts verschwunden, wo die Gasse endete und in eine Straße einmündete. Als er selbst diese Stelle erreicht hatte, sah er eine winzige Gestalt, die mit erstaunlichem Tempo in Richtung des Labyrinths der Altstadt die Getreidegasse entlangrannte.
Er hob die Walther und ließ sie sofort wieder sinken. Die Entfernung war zu groß. Er rannte weiter die menschenleere Straße entlang.
In der Konditorei half Tweed Jill und Paula wieder auf die Beine. Er warnte sie vor Glassplittern, forderte sie auf, ihre Kleidung zu überprüfen. Beide Frauen folgten der Anweisung, aber sie hatten Glück gehabt – beide hatten nicht den kleinsten Splitter abbekommen.
»Was, zum Teufel, sollte das?« fragte Jill in einem Ton, der andeutete, daß Paula und Tweed es wissen müßten.
Auf jeden Fall besser als ein hysterischer Anfall, dachte Paula.
Tweed hatte seine eigene Kleidung überprüft. Das Gebäck auf ihrem Tisch war über den ganzen Raum verstreut, zum Teil mit Einschußlöchern verziert.
»Ich nehme an«, sagte Tweed, gelassen auf Jills wütende Frage reagierend, »daß dies ein Versuch war, einen von uns umzubringen. Vielleicht uns alle.« Er sah Jill an. »Kennen Sie jemanden, dem daran gelegen sein könnte, Sie zu durchlöchern?«
»Was meinen Sie denn?« fauchte sie ihn an.
»Ich habe Sie gefragt«, erinnerte Tweed sie. »Selbst die harmlosesten Leute haben Feinde. Vielleicht möchte dieser mysteriöse Dirigent, den Sie angeblich interviewen wollen, Ihnen nicht begegnen.«
»Wieso mysteriös?« fuhr sie auf.
»Weil ich mich erkundigt habe. In nächster Zeit findet in Salzburg kein Konzert statt, und kein berühmter Dirigent hält sich in der Stadt auf.«
»Wollen Sie damit andeuten, daß ich die Geschichte erfunden habe?«
»Ich will damit andeuten, daß Sie eine blühende Fantasie haben. Oder Sie haben sich möglicherweise im Datum geirrt.«
Philip, der jetzt schwer atmete und die Kälte zu spüren begann, hatte Lucien im Labyrinth der Altstadt verloren. Er hatte Hunger, er fror, aber vor allem war er zutiefst enttäuscht.
Er wollte gerade kehrtmachen, als eine Hand seinen Arm ergriff. Er war nahe daran, seine Walther zu heben, als er sich erinnerte, daß er diesen sanften Griff an seinem Arm schon einmal gespürt hatte, als er das Postamt in München verließ.
»Sie haben ihn in diesem Kaninchenbau verloren, mein Freund.«
Wieder war Ziggy Palewski, in Pelz eingehüllt, aus dem Nirgendwo aufgetaucht. Philip stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Wen verloren?«
»Ich habe gesehen, wie er hier vorbeigerannt ist. Ein unverkennbarer Herr. Lucien, der Chef von Walvis’ Todeskommando. Wir treffen uns morgen wie geplant. Ich empfehle Ihnen, sich ein Taxi zu nehmen. Sie sehen halb erfroren aus. Gehen Sie diese Gasse hinunter. Mit einigem Glück finden Sie dort ein Taxi.«
»Sagten Sie Todeskommando?«
»Das sagte ich. Unser Mr. Walvis hat eine spezielle Truppe, die sich aller nur erdenklichen Probleme annimmt. Und in dieser Truppe ist Lucien der am meisten gefürchtete Mann …«
32
»Mr. Tweed?« hatte sich die fremde Stimme erkundigt, nachdem er in seiner Suite den Hörer abgenommen hatte.
»Wer ist da?« hatte Tweed scharf gefragt.
»Mr. Tweed«, hatte die Stimme erklärt, »ich habe eine Nachricht für Sie von Mr. Walvis. Er ist unterwegs nach Salzburg, um sich morgen vormittag mit Ihnen zu
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