Kalter Amok
durch. Er war tatsächlich brillant. Das hat er immer und immer wieder bewiesen. Aber er war kein angenehmer Mensch, den man gern um sich hat. Bei Gesprächen wirkte er leblos, so, als sei er ständig gelangweilt, und machte nicht einmal den Versuch, diese Langeweile aus Höflichkeit zu verbergen. Er war kalt und hochmütig. Er hat nie gelacht – ich jedenfalls habe ihn nie lachen gesehen – und er lächelt auch nie. Er grinst höchstens spöttisch. Wenn man seine Miene betrachtet, hat man oft das Gefühl, er riecht etwas Ekelhaftes.
Mehr als nur gelegentlich bin ich nachts in unsere Labors gekommen, die wir gemeinsam benützen, das heißt, diejenigen, die an dem Projekt arbeiten, habe das Licht eingeschaltet und festgestellt, daß er dort im Dunkeln saß, allein, und ich konnte nicht sagen, wie lange. Er schien nicht nachzudenken über irgend etwas – es kam mir so vor, als ob er das Dunkel liebte. Wenn er in einer solchen Situation angetroffen wird, spricht er so, als hätte er keineswegs etwas Ungewöhnliches getan, dann geht er entweder weg oder er setzt sich an die Arbeit, die immer auf seinem Schreibtisch bereitliegt. Er hält es nie für nötig, sein ungewöhnliches Verhalten auch nur mit einer Silbe zu erklären.
Das sind vielleicht nur kleine Dinge, wenn man sie einzeln nimmt. Aber sie sind eine Konstante, was seine Persönlichkeit betrifft, und es sind Signale einer unsicheren Psyche.«
Morton schaute Haydon abschätzend an, als überlegte er, was er noch sagen sollte angesichts der vorhersehbaren Reaktion des Kriminalbeamten. Haydon nahm an, daß dieses Gespräch den Arzt einen beträchtlichen Preis kostete, den Haydon vermutlich gar nicht voll zu schätzen vermochte.
»Kürzlich bemerkten wir einen ekelhaften Geruch im Labor, der mehrere Tage anhielt«, fuhr Morton fort. »Es roch nach einem toten Tier. Die geimpften Ratten werden in versperrten Käfigen gehalten, aber in einem anderen Teil des Labors befinden sich gesunde Ratten, in einfachen, tragbaren Käfigen. Die Leute, die hier saubermachen, lassen sie gelegentlich zum Scherz heraus, und dann finden wir sie erst, wenn sie tot sind, wenn wir den Geruch wahrnehmen und alles durchsuchen. Das hielten wir auch diesmal für möglich. Wir haben im Labor alles durchsucht. Keine Ratte. Schließlich baten wir den Kustos, das ganze Labor übers Wochenende zu reinigen, um auf diese Weise den Geruch loszuwerden.
An jenem Freitagabend, ziemlich spät, entschloß ich mich, noch eine halbe Stunde im Labor zu arbeiten, damit ich nicht am Samstag hinmußte, denn da feierte mein Enkel seinen Geburtstag mit einer großen Party. Ich fuhr also hierher und ging hinauf ins Labor. Ich steckte den Schlüssel ins Schloß, öffnete die Tür und schaltete das Licht ein. Auf der anderen Seite, am Ende von einem der Labortische, stand Rafael. Er schaute mich nicht allzu überrascht an und hatte etwas in beiden Händen, was er sich dicht vor die Augen hielt. Ich sagte kein Wort, ebensowenig wie er, als ich um den Labortisch auf ihn zuging. Plötzlich nahm ich den süßlichen Geruch verwesten Fleisches wahr und erkannte die tote Ratte in seinen Händen. Das Tier befand sich in einem fortgeschrittenen Zustand der Fäulnis. Es war bereits aufgeschwollen und geplatzt; auch das Haar löste sich bereits in Flocken von der Haut. Rafaels Hände waren davon ganz verklebt. Als ich den Blick auf ihn richtete, war ich betroffen über das, was ich sah. Seine Augen waren glasig, und an seiner Unterlippe hing schaumiger Speichel. Teile des Rattenhaars klebten an seiner Haut, von der Stirn bis zum Kinn. Er hatte sich ganz offensichtlich die verweste Ratte ins Gesicht geschmiert.
Mit Mühe brachte er die Worte ›tote Ratte‹ hervor, dann drehte ich mich angewidert um und verließ das Labor.«
Morton hielt inne und saß still da. Haydon empfand es plötzlich als sehr unhöflich, das Gesicht des Arztes zu betrachten. Er schaute auf die Spitzen seiner hochpolierten Schuhe und sagte: »Wie interpretieren Sie das, was Sie da gesehen haben?«
»Ich bin kein Psychoanalytiker, aber ich muß daraus gewisse Folgerungen ziehen. Ich nehme an, Guimaraes ist nekrophil veranlagt. Er interessiert sich mehr für den Tod und für tote Lebewesen als für das Leben, und ich glaube auch nicht, daß es sich dabei um eine passive Krankheit handelt. Sein Interesse für die Medizin ist rein intellektuell und ziemlich abwegig.«
Morton hielt inne, und seine Gedanken beschäftigten sich mit Ideen, die sich nur
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