Kalter Grund - Almstädt, E: Kalter Grund
Dr. Mösing erlaubte sich jedoch vorab schon mal die Einschätzung, dass der Mörder so etwas wie einen Jagdkarabiner benutzt hatte.
Ein feiner, gischtartiger Regen erschwerte die Sicht, als sie eine halbe Stunde später auf der Autobahn in Richtung Grevendorf unterwegs waren. Die Temperatur draußen lag knapp über null Grad und im Autoradio warnte man vor Eisregen. Die Autoheizung tourte auf Hochbetrieb und die Luft im Fahrzeuginneren war trocken und stickig. Das monotone Schaben der Scheibenwischer und die Wärme machten Pia schläfrig. Um nicht einzuschlafen, konzentrierte sie sich auf die Umgebung draußen.
Auf Höhe von Eutin mussten sie die Autobahn verlassen. Die Landstraße verlief schnurgerade, aber in einem für diese Breiten rasanten Auf und Ab, in Richtung Eutin. Die mit Wintersaat bestellten Felder zogen sich in schwungvollen Wellen dahin, bis sie im feuchten Nebel verschwanden. Von den Chausseebäumen fielen pladdernd dicke Wassertropfen auf die Frontscheibe und das Autodach.
Pias Gedanken wanderten zu der Unberechenbarkeit des menschlichen Daseins. Die drei Benneckes hatten keine Chance gehabt. Sie stellte sich vor, wie Ruth und Malte Bennecke am Montagabend nach Hause gefahren waren. Waren sie völlig ahnungslos gewesen? Sie parkten auf dem Hofplatz, stiegen aus und gingen auf ihr Haus zu. Währenddessen lauerte in der Finsternis ein Mensch mit einem Gewehr im Anschlag auf sie. Pia stellte sich einen männlichen Täter vor, obwohl es dafür noch keinen konkreten Hinweis gab. Die ersten Schüsse trafen Malte Bennecke, er ging zu Boden. Seine Mutter schrie vielleicht noch und wollte zu ihm hinlaufen, als ein weiterer Schuss fiel, dann noch zwei. Beide waren sofort tot. RainerBennecke befand sich zu dem Zeitpunkt, als die ersten Schüsse fielen, höchstwahrscheinlich im Haus. Er hatte wohl nachsehen wollen, was die Geräusche bedeuteten. Draußen sah er seine Frau und seinen Sohn am Boden liegen und lief hin. Auch ihn trafen zwei Kugeln. Er war aber nicht sofort tot. Er verblutete. Möglicherweise war der Täter noch aus dem Wäldchen gekommen, um sicherzugehen, dass er Erfolg gehabt hatte. Vielleicht hatte Rainer Bennecke vor seinem Tod den Mann gesehen, der seine Familie zerstört hatte.
Pia war so in ihre Vorstellungen versunken, dass sie aufschreckte, als Marten sie ansprach. Er deutete aus dem Fenster, wo über dem Grevendorfer See die Wolkendecke aufbrach und türkisblauen Himmel freigab. Die Wolkenränder leuchteten in weiß bis gelb-orange und das Wasser glitzerte im Sonnenlicht. »Schau mal, ist doch ein netter Empfang hier, oder?«
Der tatsächliche Empfang war allerdings weniger nett.
Im Hotel erwartete sie Katrin Bennecke. Sie vergeudete keine Zeit mit Begrüßungsfloskeln, sondern fiel sofort vorwurfsvoll über die gerade Angekommenen her:
»Ich nehme an, Sie sind von der Kriminalpolizei. Ich warte hier schon seit gestern Abend auf Sie!«
»Sind Sie Katrin Bennecke, die Tochter von Ruth und Rainer Bennecke?«, fragte Pia und versuchte sich trotz des Dämmerlichts im Foyer einen Eindruck von der Frau zu verschaffen. Sie war von kräftiger Gestalt und hatte ein rötliches Gesicht mit leicht hervortretenden Augen. Ihre Kleidung sah teuer und geschäftsmäßig aus, machte sie sofort zu einem Außenseiter in dieser Umgebung.
»Wer sonst? Ihre Kollegen in Frankfurt haben mich gestern über den Vorfall hier informiert. Fast unglaublich, die Geschichte!Sie drängten mich, schnellstmöglich herzukommen, obwohl das Kind wohl bereits in den Brunnen gefallen ist. Kurzum, ich hab mich gleich auf den Weg gemacht und sogar einen wichtigen Termin deswegen abgesagt. Aber bis jetzt hat sich hier noch nichts getan, was meine Anwesenheit erforderlich gemacht hätte.«
»Frau Bennecke«, sagte Marten, nicht weiter auf ihre Vorwürfe eingehend, »ich bin Hauptkommissar Marten Unruh und das ist meine Kollegin Pia Korittki. Ich leite die Ermittlungen in diesem Fall.«
»Ach ja? Dann können Sie mir vielleicht erklären, warum ich so eilig herbestellt werde, nur um dann hier herumzusitzen. Meine Zeit kostet schließlich Geld. Also: Was soll nun passieren?«
»Sie müssen die Opfer offiziell identifizieren«, sagte Marten in einem Tonfall, den er sich sonst wohl eher für aufsässige Teenager aufsparte.
Die Anweisung, sich nach Lübeck zu begeben, stieß erwartungsgemäß auf lauten Unmut.
Als Katrin Bennecke endlich einsah, dass ihr Ausbruch zu nichts führte, wurde sie umgänglicher. Pia beschrieb
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