Kalter Grund - Almstädt, E: Kalter Grund
Verachtung übrig gehabt. Pia hatte sich mit einer Intensität in ihn verliebt, die ihr damals völlig neu war. Sicher, Robert sah gut aus, strahlte Selbstsicherheit aus. Es war jedoch der Kontrast zu ihrem sonstigen Umfeld, der Pias Hormone in Aufruhr brachte. Konfrontation statt Ausweichen, Perspektive statt Ziellosigkeit.
Als Robert wieder abgereist war, verkaufte Pia ihr Surfbrett, kratzte ihr letztes Geld zusammen und erstand ein Flugticket nach Hause.
In der gepflegten Doppelhaushälfte in Lübeck-Stockelsdorf überraschte sie ihre Eltern nicht nur mit ihrer Rückkehr, sondernauch mit der festen Absicht, eine Ausbildung bei der Polizei zu beginnen. Robert traf sie erst fünf Jahre später auf einer Schulung wieder. Er erkannte sie nicht. Die Wandlung von der braun gebrannten Surferin zu der kühlen Kripobeamtin war frappierend. Und dieses Mal gerieten nicht nur Pias Hormone in Aufruhr.
Inzwischen drohte ihre Liebe jedoch in Gewohnheit zu versickern. Robert war die Fahrerei zwischen Hamburg und Lübeck leid, ebenso Pias spartanische Wohnverhältnisse. Er plante den gemeinsamen Kauf einer Eigentumswohnung und Pias Versetzung nach Hamburg, um seinem Leben eine neue Richtung zu geben, wie er es formulierte.
Im ersten Moment war Pia der Richtungswechsel sehr recht, enthob er sie doch ihrer beruflichen Schwierigkeiten ohne einen Gesichtsverlust. Dann erkannte sie die drohende Falle. Sie hatte ein Bild gemalt, das einen langen Korridor zeigte, an dessen Ende nur ein kleines, vergittertes Fenster zu sehen war. »Gefängnisbild« hatte Robert es scherzhaft genannt und den Zusammenhang zu Pias Ängsten nicht sehen wollen.
Inzwischen verstaubte das »Gefängnisbild« mit den anderen in Farben ausgedrückten Albträumen. Pias Ängste verstaubten nicht. Am Sonntag war es über dieses Thema zu einem heftigen Streit zwischen ihnen gekommen. Der Immobilienteil des Hamburger Abendblattes lag zerfetzt im Altpapier und vor dem Durchgang zu Pias Haus hatten die Winterreifen von Roberts Audi TT beim Wegfahren schwarze Spuren hinterlassen.
Nun war schon Dienstag, fast Mittwoch, und Pia hatte noch nichts von Robert gehört.
8. KAPITEL
A m nächsten Morgen war Pia um kurz vor sieben in ihrem Büro. Sie hatte in ihrer Wohnung noch schnell ein paar Sachen in eine Reisetasche geworfen und diese auf dem Rücksitz ihres Wagens deponiert. Eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass sie gezwungen sein würde, ein paar Nächte in Grevendorf zu verbringen. Dann war sie zum Polizeihochhaus gefahren. Der Pförtner in seinem Glashäuschen unten am Eingang hatte nur ein unterdrücktes Gähnen für sie übrig gehabt.
Um diese Uhrzeit waren die meisten Büros noch unbesetzt, in den Fluren war es ruhig. Pia setzte die Kaffeemaschine in der Teeküche und ihren Rechner in Betrieb und konzentrierte sich dann auf ihre Aufzeichnungen. Als Unruh um zehn vor acht bei ihr hereinschaute, war sie völlig in ihre Arbeit vertieft.
»Morgen, Korittki, aus dem Bett gefallen heute? Ich hab eine Überraschung für dich.«
»Was ist denn?«, fragte sie, den Blick nicht von ihrem Bildschirm abwendend.
»Ich habe gerade einen Anruf bekommen! Wir werden um acht Uhr von Dr. Mösing erwartet.«
»Klär mich auf, ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst ...«
»Vom Institut für Rechtsmedizin. Wir werden um acht Uhr zur Obduktion erwartet.«
»Was? So schnell? Oh, Mist!«
»Beeil dich, die warten auf uns.«
Pia bemerkte, dass ihre Knie zitterten, als sie aufstand. Sie hatte bisher erst bei einer Obduktion dabei sein müssen, und diese Erfahrung reichte ihr eigentlich für ihr gesamtes weiteres Leben. Aber ihr war klar: Bei Ermittlungen in einem Mordfallwar im Falle einer Obduktion die Teilnahme von zwei beteiligten Kriminalbeamten vorgeschrieben.
Sie griff nach ihrer Jacke und eilte hinter ihrem Kollegen her, der schon auf dem Weg zum Fahrstuhl war. Das Rechtsmedizinische Institut des Universitätsklinikums lag auf dem Gelände des Krankenhauses Süd. Die Fahrt dorthin dauerte nur knapp fünf Minuten.
Im Institut wurden sie von einem anderen Arzt empfangen als dem, der am Tatort gewesen war. Bei genauerem Hinsehen handelte es sich um eine Ärztin. Androgyn bis in die kurz geschnittenen Fingernägel, aber unverkennbar weiblichen Geschlechts. Das Namensschild an ihrem Kittel wies sie als Dr. Anke Mösing aus, aber in ihrer Gegenwart wagte es bestimmt niemand, Witze über ihren Namen zu machen. Ihre Haut war gebräunt, ihre Haare hellgrau und kurz
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