Kalter Mond
Menschen teilt.«
Es trat eine Pause ein. Cardinal konnte Whaley am anderen Ende der Leitung atmen hören.
»Wenn ich mir die Sache so anschaue, John, würde ich diese drei Fälle nicht miteinander in Verbindung bringen. Selbst hinsichtlich des MO – im zweiten Fall ist nicht klar, ob die Hände und so weiter vor dem Tod abgetrennt wurden. Das macht aber einen Riesenunterschied. Damit haben Sie den geografischen Faktor plus den MO in zwei Fällen, wenn’s hochkommt. Nicht gerade üppig, mein Freund.«
Cardinal fluchte leise.
»Ja, ich weiß, wie Ihnen zumute ist.«
»Nein, nein, was Sie mir da liefern, ist großartig. Ich versuch nur gerade, mich durch dieses riesige Dokument zu navigieren. Ich möchte mir Beltrans Background ein bisschenunter die Lupe nehmen. Wie komme ich an Einzelheiten zu den Verdächtigen?«
»Sie müssen die Links mit den Fallnummern anklicken. Die sind unterstrichen, gleich über den …«
»Hab sie. Nochmals vielen Dank für alles, Jack.«
»Hören Sie, dieses elektronische Dokument, das Sie da vor sich haben, ist inoffiziell, okay? Ich schick Ihnen das richtige per Express. Viel Spaß.«
Cardinal scrollte durch die Notizen über den jungen Beltran. Kein Engel, der Knabe. Sechs Anklagen in seiner Jugendstrafakte und eine schwere Körperverletzung, die ihn für zwei Jahre in eine Jugendstrafanstalt in Deep River brachte.
Dann die Kommentare der Torontoer Kollegen zum Alibi-zeugen des Angeklagten, diesem Victor Vega. Nannte sich Beltrans Onkel, aber sie waren keine Blutsverwandten. Die ermittelnden Beamten konnten ihn mit dem Verbrechen nicht in Verbindung bringen, hielten jedoch fest, dass er trotzig und feindselig schien.
Beltran. In Kanada kein gewöhnlicher Name. Cardinal überprüfte die Kurzfassung der Daten zur Person. Mutter arbeitslos. Vater verstorben. Staatsbürgerschaft kanadisch. Cardinal überflog einige Auflistungen sozialer Kontakte und hatte schon fast aufgegeben, unter diesem Blickwinkel etwas zu finden, als ihm eine Bemerkung entgegensprang: Mutter sagt, seit ihrer Auswanderung aus Kuba ist für sie alles schief gelaufen. Kam 1980 aus Havanna nach Miami. Zwei Jahre später nach Toronto. Sagt aus, sie bekomme keine Hilfe von Verwandten in Havanna.
»Hey, Delorme.« Cardinal erwischte sie noch gerade auf dem Weg nach draußen. Die Klinke in der Hand, blieb sie stehen. »Du solltest nicht mal dran denken, jetzt zu gehen. Ich glaube, wir haben gerade den entscheidenden Durchbruch.«
49
V itamin B ist das halbe Leben«, pflegte Chief Kendall zu sagen, und Cardinal stellte diese Maxime jetzt auf die Probe. Er hatte zehn Jahre bei der Kripo Toronto gedient, und jetzt zapfte er jede Quelle an und forderte jeden nur denkbaren Gefallen ein, den ihm irgendjemand schuldete.
Delorme dagegen hatte ihre Zeit in Toronto auf das Minimum reduziert. Doch zu den zentralen Erfordernissen im Leben eines Polizisten gehört die unablässige Weiterbildung – investigative Techniken, neueste Entwicklungen beim Sammeln von Beweismaterial, die jeweils jüngsten Errungenschaften in der Gerichtsmedizin, hinsichtlich Kriminalpsychologie und der Zusammenarbeit zwischen den Dienststellen. Dem Erfindungsreichtum der Leute, die dies alles organisieren, sind keine Grenzen gesetzt, und Polizisten gehen nicht ungern nach Toronto, da solche Anlässe eine vorzügliche Quelle für neue Kontakte sind.
Mit vereinten Kräften stellten Cardinal und Delorme eine beeindruckende Akte über eine Person zusammen, die für sie bis vor wenigen Stunden ein unbeschriebenes Blatt gewesen war.
Tony Glaser, Bewährungshelfer: »Raymond Beltran? Dem bin ich vor fünfzehn, sechzehn Jahren begegnet. Da war er sechzehn oder siebzehn, auf Bewährung, nachdem er einem Jungen mit einer Schaufel eins über den Schädel gezogen hatte. In gewisser Hinsicht war er der ideale Bewährungskandidat. Pünktlich, adrett, jemand, der sich an die Regeln hält. Zu den Auflagen gehörte es, dass er wieder richtig zur Schule geht – hat er gemacht. War jeden Tag um neun da, ist bis umhalb vier Uhr nachmittags geblieben wie alle anderen auch. Zwei Jahre lang regelmäßige Teilnahme am Unterricht.
Er war ruhig, höflich, gab jede Auskunft, die man von ihm haben wollte. Keinerlei Anzeichen von Feindseligkeit. Das einzige negative Urteil ist, dass er nicht redete. Nicht wirklich redete. Wenn man ihn damit durchkommen ließ, beantwortete er Fragen äußerst einsilbig. Vielleicht mit einem Kopfnicken, wenn er gerade etwas
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