Kalter Trost: Island-Krimi (German Edition)
aus und öffnete die nächste Dose.
»Du kannst hierbleiben, wenn du willst«, sagte Elín Harpa plötzlich. »Du bist ein richtig netter Mann.«
»Danke. Ich würde gerne bleiben, aber ich glaube, es wird nicht für lange sein.«
»Warum nicht?«
Jón zögerte. Am liebsten hätte er gesagt: Weil ich gestern kaltblütig einen Mann erschossen habe und morgen einen weiteren umbringen werde. Und danach werde ich den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen.
»Naja, im Moment passiert so viel Mist in meinem Leben. Ich muss versuchen, alles wieder auf die Reihe zu bekommen«, sagte er stattdessen lahm.
»Es liegt ganz an dir. Das Angebot steht«, wiederholte Elín einfach. »Du warst neulich nett zu mir – es ist schön, sich revanchieren zu können.«
»Ich hätte nicht anders handeln können«, sagte Jón ein wenig hilflos.
»Egal. Die Kinder werden früh aufwachen, und dann muss ich sie in den Kindergarten bringen. Deshalb gehe ich jetzt ins Bett«, sagte sie und zog sich ihr T-Shirt über den Kopf. »Kommst du auch?«
***
Laufey wusch die Kochtöpfe ab, während Steini die Spülmaschine einräumte. Gunna setzte sich aufs Sofa und zog dankbar die Füße hoch.
»Was soll ich mit den Essensresten machen, Mum?«, rief Laufey aus der Küche.
»Stell alles in den Kühlschrank, ja?«
Das Klappern in der Küche hörte abrupt auf, als die Spülmaschine zu laufen begann. Die Kaffeemaschine zischte und spuckte vor sich hin. Gunna hatte die Fernbedienung des Fernsehers mit ihren vielen Tasten nie völlig in den Griff bekommen, sondern hielt sich immer an das halbe Dutzend, das sie tatsächlich benötigte. Schließlich fand sie die Abendnachrichten.
Der Polizeipräsident sah müde aus, als er nach einer Einblendung der Straße, in der Bjartmar Arnarson am Vorabend ermordet worden war, eingeblendet wurde. Seine Erklärung war kurz und schnörkellos. Er gab bekannt, dass Bjartmar das Opfer der Schießerei war, und fügte lediglich hinzu, dass die Polizei eine Reihe von Spuren verfolgte, die hoffentlich bald zur Festnahme des Täters führen würden. Gunna erinnerte sich flüchtig, dass der Polizeipräsident normalerweise den Auftritt vor so vielen Mikrofonen genoss, aber diesmal wirkte er weniger entspannt. Während er in kurzen, prägnanten Sätzen sprach, konnte Gunna hinter ihm die untersetzte Gestalt von Ívar Laxdal ausmachen.
»Ist das der Fall, an dem du arbeitest, Mum?«, fragte Laufey, die mit einem Küchentuch in der Hand im Türrahmen auftauchte.
»Das ist bloß einer von mehreren, Schätzchen. Aber dieser Fall steht momentan ganz oben auf der Liste.«
»Wirst du den Täter fassen?«
»Bestimmt. Sobald wir herausgefunden haben, wer er ist.«
»Was bringt jemanden dazu, andere Menschen umzubringen?«
Gunna sah zu Laufey auf, deren Aufmerksamkeit immer noch auf den Bildschirm gerichtet war. »Warum fragst du?«
»Weil es mich interessiert. Die psychologische Seite. Es muss Gründe dafür geben.«
»Man glaubt, dass nur sehr wenige Menschen in der Lage sind, einfach so Gewalttaten zu begehen«, erklärte Gunna und schnippte mit den Fingern. »Niemand weiß, wie viele Menschen zu dieser Gruppe gehören, vielleicht ein Prozent der Bevölkerung, vielleicht auch weniger. Der Rest befolgt die Gesetze. Aber wenn diese vermeintlich normalen Bürger ein schweres Verbrechen begehen, können alle möglichen Gründe der Auslöser sein.«
»Sind sie krank?«
»Manchmal. Oft sind es auch verzweifelte Menschen, und häufig sind Drogen- und Abhängigkeitsprobleme im Spiel.«
»Also sind diese Menschen psychisch krank?«
»Wenn man Suchtprobleme als Krankheit betrachtet, dann ja.«
Laufey sah ihre Mutter an. »Glaubst du , dass Drogenabhängigkeit eine Krankheit ist?«
»Das ist schwer zu sagen. Allgemein betrachtet kann man Sucht als Krankheit bezeichnen. Ich habe im Laufe meiner Berufsjahre gelernt, dass es keine einfachen Antworten gibt. Drogen werden oft als Zuflucht vor einem anderen Problem genutzt, das so tief versteckt liegen kann, dass es selbst dem Betroffenen nicht völlig bewusst ist. Dazu gehören beispielsweise Probleme mit dem Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, ein allgemeines Gefühl der Unzulänglichkeit. Aber ich habe auch gelernt, dass jeder Mensch anders ist und jeder Fall für sich betrachtet werden muss, besonders, wenn er so komplex ist wie dieser.« Gunna machte eine Handbewegung in Richtung Fernseher.
»Du hättest dich für Psychologie entscheiden sollen, Mum«, kommentierte
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