Kalter Trost: Island-Krimi (German Edition)
herunterbeugte, um ihm einen Kuss zu geben, verkeilte sich das Buch zwischen ihnen.
»Was ist denn passiert?«, wollte er wissen.
»Sigrúns Mann Jörundur war seit dem Börsencrash arbeitslos. Dann hat er über ein paar ehemalige Kollegen ein Angebot bekommen, an einem großen Bauprojekt in Norwegen mitzuarbeiten, an einem Tunnelbau, glaube ich. Also ist er nach Norwegen geflogen, um sich die Baustelle anzusehen. Was er aber nicht erzählt hat, ist, dass er dort zusammen mit einer Frau unterwegs war, mit der er seit Weihnachten eine Affäre hatte.«
»Ach ja, die Gefahren des mittleren Alters«, sagte Steini und nickte betrübt. »Ich bin froh, das hinter mir zu haben.«
»Hör bloß auf! Jedenfalls hat Jörundur dann beschlossen, mit seiner Neuen dort zu bleiben. Sigrún hat erst davon erfahren, als er sie per SMS gebeten hat, seine Sachen nach Norwegen zu schicken.«
»Nicht gerade rücksichtsvoll und einfühlsam. Hattest du abgesehen davon einen guten Tag?«
»Nicht übel. Das meiste darf ich dir nicht erzählen. Aber seit ich heute Morgen das Haus verlassen habe, hat ununterbrochen Trubel geherrscht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele unangenehme und schlechte Menschen es da draußen gibt, sogar in einem so ruhigen, kleinen Land wie Island.«
»Wirklich?«
»Wirklich. Man sollte nachts auf jeden Fall die Türen abschließen.«
Steini lehnte sich vor und schenkte den Rest aus einer Weißweinflasche in ein Glas, das er Gunna reichte. Sie trank einen Schluck und rümpfte die Nase, weil der Wein ziemlich sauer war.
»Wo kommt der denn her?«
»Frag nicht.« Er grinste verschmitzt.
»Okay. Ich sterbe vor Hunger. Bist du auch hungrig?«
Steini strich über seinen Schnurrbart, der ihn zehn Jahre älter wirken ließ.
»Wenn es etwas zu essen gibt, könnte ich mich überreden lassen«, sagte er träge und lächelte.
Gunna erhob sich und begann, ihre Bluse aufzuknöpfen.
»Gut. Im Tiefkühlschrank ist noch Knoblauchbrot für die Mikrowelle, von gestern ist noch Nudelsalat übrig, und im Kühlschrank haben wir noch einige Lammkoteletts. Wenn du sie jetzt in den Ofen schiebst, müssten sie fertig sein, wenn ich aus der Dusche komme.«
11. KAPITEL
Sonntag, der Einundzwanzigste
»Jón, ich habe heute gar nicht mit dir gerechnet«, sagte Ágústa und zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
»Tut mir leid, Mom. Ich dachte, ich hätte dir letzte Woche gesagt, dass ich dieses Wochenende vorbeikomme«, erwiderte Jón. Regen tropfte von seiner Schirmmütze. Ragna Gústa ließ schnell seine Hand los und huschte hinter ihrer Großmutter vorbei ins Haus.
»Dann komm mal rein. Aber ich habe nicht viel Zeit. Didda Geirmunds kommt später vorbei, wir wollen ausgehen«, verkündete Ágústa. Sie gab sich keine Mühe, ihre Verärgerung über die Störung ihres Tagesablaufs zu verbergen.
Jón ging in die Küche und setzte sich, nachdem er aus Gewohnheit den Inhalt des Kühlschranks überprüft hatte. Ágústa stellte eine Tasse vor ihn auf den Tisch und nickte in Richtung der eleganten Edelstahlkanne, die auf dem Tisch stand. Alles an seiner Mutter und ihrer Lebensweise war elegant. Das Haus war blitzblank und teuer möbliert. Hier gab es kein einziges billiges Stück aus dem Möbelhaus.
»Was führt dich heute hierher?«, fragte Ágústa scharf.
»Ich bin sicher, dass ich es dir erzählt habe. Ragna Gústa ist heute bei mir, ich dachte, du würdest sie gerne sehen. Linda fährt nächstes Wochenende mit ihr weg, deshalb wirst du sie für eine ganze Weile nicht mehr sehen können.«
»Es ist ein Jammer«, sagte Ágústa und presste die Lippen aufeinander. »Es gibt heute so viele Scheidungen, aber ich hätte nie gedacht, dass es in unserer Familie passieren könnte.«
Aber es ist nun mal passiert, verdammt noch mal! , hätte Jón am liebsten gebrüllt. Stattdessen zuckte er mit den Schultern.
»Es ist, wie es ist, und ich will nicht mit dir darüber diskutieren«, sagte er.
Du hast gut lachen , dachte er. Du hast zwei Ehemänner beerdigt, und beide haben dir einen Haufen Geld hinterlassen .
»Ich will bloß kurz ein paar Sachen aus dem Keller holen«, fügte er hinzu, schob seinen Stuhl zurück und ließ seine halb volle Tasse stehen.
»In Ordnung. Aber beeil dich. Didda holt mich in einer halben Stunde ab.«
Im Keller fühlte Jón sich wohler. Es war kühl und ruhig, abgesehen von dem leisen Summen der Gefriertruhe in der Ecke. Das Haus war komplett unterkellert. In dem großen Hauptraum befanden sich die
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