Kaltes Blut
hatte, spülte das Glas, aus dem er getrunken hatte, trocknete es ab und stellte es zurück in den Schrank. Er wischte über den Tisch und den Sessel, auf dem er gesessen hatte, ging noch einmal ins Schlafzimmer und warf einen letzten Blick auf Marianne Tschierke, löschte die Nachttischlampe, bevor er die Schlafzimmertür anlehnte. Er durchsuchte zwanzig Minuten lang Miriams Zimmer, fand ein Tagebuch, in dem auch sein Name stand, sonst aber keinen Hinweis auf seine Identität.
Es war einundzwanzig Uhr fünfunddreißig. Er machte vorsichtig die Tür auf, schaute hinaus in den Flur, er war allein. Im letzten Moment fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, den Telefonsteckerwieder in die Buchse zu stecken. Er atmete zweimal tief durch, erleichtert, diesen Fehler nicht begangen zu haben.
Nur aus einer Wohnung dröhnte ein Fernseher. Entweder waren die Bewohner halb taub oder einfach nur rücksichtslos. Eher rücksichtslos, dachte er, die Rücksichtslosen beherrschen die Welt. Leise zog er die Tür zu und huschte zum Treppenhaus. Auf zwei Stockwerken war das Licht ausgefallen. Er benötigte keine zwei Minuten, bis er im Erdgeschoss angelangt war. Er begab sich nach draußen, wissend, aus welcher Richtung Miriam kommen würde, sie kam immer aus derselben Richtung. Er hatte Zeit.
Sonntag, 22.45 Uhr
Er sah sie schon von weitem kommen, sie war allein. Er tränkte das Tuch schnell mit reichlich Chloroform, steckte es in ein Holzkästchen, schraubte die Flasche wieder zu, stieg aus und tat, als käme er gerade vom Haus. Sie erkannte ihn, ihr Gesicht hellte sich auf.
»Hi«, sagte sie und strahlte ihn an, doch bevor sie weitersprechen konnte, erwiderte er mit ernster Miene: »Ich war gerade bei deiner Mutter, es geht um Selinas Beerdigung. Deine Mutter hat gemeint, du müsstest jeden Augenblick kommen. Hast du einen Moment Zeit?«
»Ja, klar«, entgegnete Miriam und stellte ihr Fahrrad an der Treppe ab, die zum Eingang führte.
»Setzen wir uns ins Auto, ich steh gleich dort vorne. Ich habe aber nur ein paar Minuten, weil ich noch einiges zu erledigen habe, und du musst ja auch um elf zu Hause sein.«
»Ach, meine Mutter pennt sowieso gleich«, sagte Miriam und folgte ihm zum Auto. Sie stiegen ein, Miriam rümpfte die Nase und sagte: »Was riecht denn hier so komisch?«
»Ich hab den Wagen gestern gründlich reinigen lassen und dabei ist dem Idioten eine Flasche ausgekippt. Ich frag mich auch schon,wie lange ich diesen Gestank noch ertragen muss.« Bei diesen Worten lächelte er verklärt, ohne dass es Miriam sehen konnte.
Miriam schaute ihn an, wäre ihm am liebsten gleich um den Hals gefallen, um ihn zu küssen, sie wäre sogar zu mehr bereit gewesen, eigentlich zu allem, denn sie hatte sich schon seit ihrer ersten Begegnung in ihn verguckt, und nachts, wenn sie allein im Bett lag, träumte sie sogar des Öfteren davon, wie es wohl wäre, wenn sie und er es miteinander trieben. Sie hatte schon sexuelle Erfahrungen gesammelt, doch die unterschieden sich weit von dem, was sie sich unter wahrer Liebe und intimem Zusammensein vorstellte. Mit ihm wäre es sicherlich der Himmel auf Erden, er in ihr, sie beide auf einer Woge des Glücks. Seine Augen hatten etwas Magisches, seine Hände auf ihrem Körper zu spüren hätte sie als das Größte empfunden. Mit ihm zu verschmelzen, nur einmal, denn sie wusste, eine Zukunft mit ihm war ausgeschlossen, er hatte ja eine Frau, die er nie aufgeben würde. Aber sie würde diesen Moment mit ihm allein in seinem Auto genießen, nachher ins Bett gehen und wieder von ihm träumen.
Er blickte ihr in die Augen, legte eine Hand auf ihre, die andere hatte er auf dem Lenkrad. Sie erwiderte seinen Blick, rückte noch etwas näher und fragte: »Können wir ein bisschen fahren? Ich hab noch keine Lust, nach oben zu gehen. Sind doch eh Ferien.«
Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite, lächelte vieldeutig und sagte: »Na ja, eigentlich hab ich nur sehr wenig Zeit. Aber gut, wenn du möchtest. Wo soll’s denn hingehen?«
Sie war erleichtert. »Irgendwohin. Egal.« Nein, egal war es ihr nicht. Sie wünschte sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als mit ihm an einen einsamen Ort zu fahren, wo sie ganz allein waren und er vielleicht doch das tat, was sie bis eben nie für möglich gehalten hätte. Und so, wie er sie anschaute, hatte sie das Gefühl, er wollte dasselbe. Wieso sonst war er auf ihren Wunsch eingegangen? Und wieso hatte er ihre Hand berührt und ihr so tief in die Augen
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