Kaltgestellt
Stadt. Bevor er aber das Münster erreichte, bog Nield nach rechts in eine noch schmalere Gasse ab. »Elftausendjungfern-Gässl«, las Nield, der perfekt Deutsch sprach, laut von dem Straßenschild ab. »Klingt nicht schlecht.«
Die einsame dunkle Gasse war eigentlich nur eine Treppe mit vielen Steinstufen, die weit den Berg hinaufführte. Nield fror an den Fingern und ärgerte sich, daß er vergessen hatte, seine Handschuhe mitzunehmen. Er steckte die Hände tief in die Manteltaschen und begann, die lange Treppe hinaufzusteigen. Obwohl die Stufen vereist waren, bewegte Nield sich relativ sicher vorwärts. Ein Vorteil der unheimlichen Stille, die über der ganzen Stadt zu liegen schien, war der, daß er es nicht überhören konnte, wenn sich ihm jemand nähern sollte. Beim Steigen zählte Nield die Stufen. Es waren genau achtundsechzig, bis er ganz oben war. Dort blieb er stehen und sah sich um. An einer Hauswand lehnte ein Motorrad, eine nagelneue Yamaha mit Baseler Nummernschild. Nield wußte, daß er am Martinsplatz angelangt war, einem kleinen kopfsteingepflasterten Quadrat, das an allen Seiten von alten Häusern umgeben war. Als er den verlassenen Platz überquerte, verspürte er eine leise Beklemmung. Das Haus, zu dem er wollte, befand sich direkt neben dem, an dessen Wand das Motorrad stand. Die schwere Holztür war zu, aber als Nield die Klinke nach unten drückte, ließ sie sich öffnen. Drinnen war es angenehm warm. Nield schloß leise die Tür, deren Angeln offenbar gut geölt waren. Eine schwache Lampe erleuchtete das Innere des Hauses. Nield ging ein paar Schritte hinein und blieb dann wie angewurzelt stehen. Auf einem Stuhl in einer Ecke saß eine alte Frau in einem knöchellangen dunklen Kleid. Ein kräftig gebauter Mann stand neben ihr und hielt ihr eine brennende Zigarette an das rechte Auge. Der Mann war groß und dick und trug einen schwarzen Anorak, eine schwarze Hose und ein schwarzes Barett. Als er Nield sah, wirbelte er herum und richtete eine Magnum-Pistole, die er in der anderen Hand hatte, auf ihn. Die Mündung der Pistole war so groß, daß sie Nield an eine Kanone erinnerte. Wie viele dicke Männer bewegte sich der Gorilla erstaunlich rasch und geschmeidig. Er warf die Zigarette auf den Steinfußboden, sprang auf Nield zu und schlug ihm mit dem Lauf der Pistole auf den Kopf. Obwohl Nield sich wegdrehte, so daß der Schlag ihn nur streifte, war er doch einen Augenblick lang benommen. Der Gorilla packte ihn am Kragen und stieß ihn mit gewaltiger Kraft nach hinten. Nield konnte gerade noch den Kopf zwischen die Schultern ziehen, als er auch schon mit dem Rücken an die Steinwand prallte. Seine Beine gaben nach, und er sank nach unten, wo er, an die Wand gelehnt, sitzen blieb. Nield war ziemlich groggy, aber er spürte, wie der Gorilla ihn unter den Schultern und am Gürtel nach einer Waffe abtastete. Verschwommen sah er, wie der Gorilla sich aufrichtete und nach ihm ausspuckte.
»Ich weiß zwar nicht, wer du bist, aber du darfst mir jetzt zusehen, wie ich diese dumme alte Frau da ein bißchen foltere«, sagte der dicke Mann mit einem starken amerikanischen Akzent.
»Wenn sie geredet hat – und sie wird reden, verlaß dich drauf –, kümmere ich mich um dich.« Nield versuchte sich aufzurichten, sackte aber gleich wieder zusammen. Nur langsam begann er wieder klarer zu sehen. Er befand sich in einem quadratischen Zimmer mit Wänden aus Naturstein. Die Wärme, die er bei seinem Eintritt gespürt hatte, kam von einem alten, mit Holz befeuerten Kachelofen in einer Ecke des Raums. Der Gorilla grinste und ließ hinter seinen dicken Lippen eine Reihe von spitzen Zähnen aufblitzen. Dann zündete er sich eine neue Zigarette an, trat an die alte Frau heran und brachte die Glut ganz nahe an ihr Gesicht.
21
Nield spürte, wie eine unbändige Wut in ihm aufstieg und ihm das Adrenalin durch alle Adern pumpte. Die Zigarettenglut war jetzt nur noch wenige Millimeter vom Auge der alten Frau entfernt. Vorsichtig schob Nield sich ein wenig nach oben. Er wagte es nicht, sich zu schnell zu bewegen, denn er wollte den Gorilla nicht auf sich aufmerksam machen. Schließlich hatte er sich so weit von der Wand weggedrückt, daß er eine Hand unter seinen Mantel und sein Jackett schieben konnte. In diesem Augenblick bemerkte der Gorilla die Bewegung und drehte sich um. In der rechten Hand hatte er noch immer die riesige Pistole. Mit einer raschen Bewegung riß Nield sein Stilett aus der Scheide, die er
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