Kanaken-Gandhi
bitte vergessen Sie mich bloß nicht«, klammert sich Opa Prizibilsky an meinen rechten Arm. »Lassen Sie mich bloß nicht mit diesen Chaoten alleine!«
Hatice und ihre Schwester sind von der Idee begeistert, die Wohnung umgehend durchs Fenster zu verlassen. Ihnen scheint der Spaß an den Punks auch vergangen zu sein. »Vater, lass uns bitte sofort hier abhauen«, ruft Nermin, »ich hätte niemals geglaubt, dass es Leute gibt, die noch zehnmal blöder sind als mein Bruder Mehmet.«
»Aber eigentlich sind die richtig nett«, meint Hatice, »die haben mich überall zugucken lassen. Auch beim
Schubkarrespielen.«
»Für dein Alter hast du heute mehr als genug gesehen, deswegen werden wir dich jetzt als erste nach unten abseilen.«
»Wieso, bin ich denn wirklich so klein?« fragt meine sechsjährige Tochter Hatice.
»Hatice, vielleicht tröstet es dich ja, aber mein ganzes Leben lang habe ich so was wie heute Abend auch noch nicht gesehen«, stöhnt ihre Mutter. »Komm, mein Kind, ich binde dir jetzt das eine Ende des Bettlakens um den Bauch, und dann lasse ich dich ganz langsam durch das Fenster runter.«
»Aber, Herr Engin, mich müssen Sie auch so runterkriegen.
Ich habe Gicht in den Fingern, ich kann mich nicht selbst abseilen«, sagt Opa Prizibilsky.
»Spring doch so runter, Opa«, lästert Gruben-Eddi.
Ich befürchte, die beiden werden niemals dicke Freunde.
»Sollen wir noch ein wenig nachhelfen beim Abhauen, ihr Drückeberger«, ruft ein anderer Hundeliebhaber, bei dem ich heute Abend noch nicht das Vergnügen hatte, ihn näher kennen zu lernen. Was mir aber im nachhinein nicht besonders leid tut.
»Vater, du kannst beruhigt fliehen, dein tapferer Sohn, Sultan Mehmet der Verteidiger, wird deine Festung bis zum letzten Tropfen seines Blutes gegen die Christlichen Horden schützen«, sagt Mehmet, wobei ich annehme, dass er sich auf meine Kosten lustig macht.
»Gut, bleib du da«, rufe ich nach oben, während ich mich langsam an dem Bettlaken nach unten abseile, »von mir aus kannst du dich von Gruben-Eddi und Ratten-Uli adoptieren lassen.«
Wegen dieser verfluchten Abschiebung habe ich mich schon aus meiner Arbeitsstelle und meiner heißgeliebten Halle 4
rausschleichen müssen. Und jetzt muss ich auch noch aus meinem eigenen Heim flüchten wie ein Dieb. Mitten in der Nacht, kurz vor dein Morgengrauen, hänge ich an einem zusammengeknoteten Bettlaken an der Hauswand vom Karnickelweg 7b! Bei Allah, was für eine absurde Situation!
Seit Tagen habe ich nicht geschlafen. Die ganze Welt hat sich gegen mich verschworen. Erst schneidet man mir die Ohren ab, dann werden meine Knie halb zertrümmert, und meine Pumpe wäre fast explodiert. Mein ganzes schönes Leben, das 30 Jahre lang in Deutschland in geregelten und geordneten Bahnen verlief, ist binnen weniger Tage aus den Angeln gehoben worden. Was habe ich denn verbrochen, dass die da oben mir das alles antun?! Oder will Allah gar meinen Glauben auf die Probe stellen? Man zwingt mich, meine Heimat zu verlassen, genau wie den Propheten Mohammed, der seinerzeit von Mekka nach Medina flüchten musste. Waren nicht auch die Eltern des Propheten Jesus - Joseph und Maria - in Bethlehem Asylbewerber? Genau wie der Prophet Abraham wollte ich noch vor wenigen Minuten meinen eigenen Sohn Mehmet opfern!
Und kam nicht auch nach Noah die Sintflut? Sind die letzten Tage möglicherweise ein Test, um herauszubekommen, inwieweit ich zum Propheten tauge? Aber wenn das so ist, warum habe ich meine besten Prophetenjahre in Halle 4 und mit Eminanim vergeudet? Oder kommt sich jeder, der bei Nacht aus seiner eigenen Wohnung flüchten muss, wie ein großer Prophet vor? Müsste ich mir nicht eher wie eine Kakerlake vorkommen, die von einer riesigen Macht zerquetscht wird? Genau in dem Moment erhalte ich einen fürchterlichen Schlag auf den Kopf, und eine gigantische Masse zerquetscht mich wie eine Kakerlake auf dem Bürgersteig. Ich hätte mich doch nicht so sehr in Allahs Angelegenheiten einmischen sollen!
»Oh, Osman, entschuldige, aber ich konnte mich nicht länger an dem Bettlaken festhalten«, stöhnt Eminanim, während sie von meinem Rücken runterklettert. »Zum Glück warst du direkt unter mir und hast mich aufgefangen. Sonst wäre ich wie eine Wassermelone auf den Bürgersteig geklatscht und hätte mir bestimmt beide Beine gebrochen!«
»Stattdessen habe ich mir beide Arme und den Halswirbel gebrochen«, stöhne ich und bitte Allah tausendmal um Vergebung wegen meiner
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