Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
andere Brief ist kleiner, die Briefmarke fehlt, und anstatt meiner ganzen Adresse steht lediglich mein Name auf dem Kuvert, genau in der Mitte, mit einer feinen Linie säuberlich unterstrichen.
Ich erkenne auf den ersten Blick, dass diese Handschrift Jan gehört. Die i-Tüpfelchen sind leicht versetzt, die Buchstaben neigen sich nach rechts, als hätte der Wind an ihnen gezerrt und gezogen, und die Schrift ist klein und schnörkellos. Jahrelang hat mich diese Schrift durch mein Leben begleitet: während endloser Schulstunden als weiße Spur an der Tafel oder mit krakeligem Kuli auf zerknittertem Karopapier, auf Geburtstagseinladungen, Einkaufszetteln und Post-its, die an meiner Wohnungstür hingen, oder mit Bleistift als Randnotiz in seinen Büchern, die ich mir ausgeliehen habe. Und jetzt hier, in meinem Briefkasten, auf einem kleinen weißen Umschlag.
Andächtig trage ich meine Post in meine Wohnung, lege sie auf den Küchentisch und laufe dann wie ein Panther in seinem Käfig auf und ab. Ich bin aufgeregt – ich freue mich und gleichzeitig habe ich Angst. Jan schreibt mir freiwillig einen Brief? Der, dem angeblich immer die Fingergelenke schmerzen, wenn er länger als fünf Minuten einen Stift in der Hand halten muss. Der, der einen Kugelschreiber hält, als könnte er damit eines seiner Autos reparieren oder einen Ölwechsel durchführen? Der Papier lieber zu kleinen Bällen zerknüllt und sie Caruso zum Apportieren zuwirft, anstatt darauf zu schreiben? Jan hat mir keine E-Mail geschrieben. Sondern einen echten Brief. Was um Himmels willen wird jetzt wohl darin stehen? Ich werde es nur rausfinden, indem ich ihn endlich öffne. Aber vielleicht sollte ich erst den anderen aufmachen? Zumindest aus Übungszwecken?
Ich greife nach dem länglichen Kuvert und drehe es auf die Rückseite, um nach dem Absender zu sehen. Und damit hätte ich nun wirklich am allerwenigsten gerechnet: Er ist von der Stunning Looks. Ist das schon wieder die Kündigung? Eine neue Laune der Chefredakteurin? Haha, reingelegt, Frau Schäfer – wir brauchen gar keine Kolumnistin! Ich schlitze das dicke marmorierte Papier des Umschlags auf und ziehe eine längliche Karte in den Farben des Stunning-Looks-Logos heraus. Ich klappe sie auf, und das Wort Einladung thront auf der Kopfzeile, majestätisch in tiefschwarzer Tinte, große arrogante Buchstaben, die Beine übereinandergeschlagen und sich mit blasiertem Blick die Nägel feilend, nur kurz aufsehend, ob ich es auch wirklich wert sei, dieses Wort zu lesen. Ja, ich bin!, beschließe ich und lasse mich nicht von ihm einschüchtern.
Es ist eine Einladung zur Weihnachtsfeier der Stunning-Looks-Redaktion – Zeit und Ort (gemietete Räumlichkeiten eines teureren Restaurants beziehungsweise Clubs in München) sind ebenfalls angegeben. Oh, man darf sogar eine Begleitung mitbringen. Prima, zusammen ist man weniger allein. Vor allem auf solch einer Zusammenkunft der Superlative und unter all den Hyänen muss man sich jede Unterstützung holen, die man kriegen kann! Nicht, dass sie mich am Ende noch mit ihren Fendi-Handtaschen totschlagen, aus lauter Frust, dass sie wegen ihrer komischen Diäten nichts vom leckeren Büfett probieren dürfen!
Ich vermerke mir den Termin in meinem Kalender, lege die Einladung auf das Telefontischchen im Flur und schleiche dann wieder um die Nachricht von Jan herum. Schließlich gebe ich mir einen Ruck und nehme den Brief in die Hand, drehe und wende ihn eine Weile und öffne dann sorgsam den Umschlag. Ein ordentlich gefaltetes Blatt Papier findet sich im Inneren, kein herausgerissenes Blockblatt wie sonst, sondern immerhin weißes Druckerpapier. Jans Wörter liegen schief in ihren Zeilen, klein und dicht aneinandergedrängt. Ich setze mich auf die Kante meines Küchentisches und beginne zu lesen.
Liebe Vicky,
was soll man einem Menschen schreiben, der jahrelang mein Kumpel war, mein bester Freund – und auf einmal sehe ich ihn an, und er ist nicht nur mehr das, sondern plötzlich auch eine Frau, eine wunderschöne und aufregende Frau noch dazu, die mich nicht mehr klar denken lässt, sondern ganz benommen macht? Jemand, den man so sehr braucht, aber plötzlich auch will und weiß, dass beides nicht miteinander vereinbar ist, zumindest dann nicht, wenn man diesen Menschen, diese wertvolle Freundschaft zu ihm und all die zusammen durchgestandenen Jahre nicht riskieren will? Was, wenn da über das freundschaftliche Gefühl hinaus plötzlich ein zweites aufgetaucht
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