Kaperfahrt
einer langgezogenen Kurve um diesen Berg herum verlief und ein deutliches Gefälle hatte. Zwanzig Meilen pro Stunde waren ja okay, aber wenn sie noch weiter beschleunigten, würden sie irgendwann die Kontrolle über den Güterwagen verlieren.
Juan kroch zum vorderen Ende des Waggons, wo ihm ein verrostetes stählernes Handrad die Bedienung der mechanischen Bremse ermöglichte. In den Tagen, ehe George Westinghouse sein ausfallsicheres pneumatisches Bremssystem entwickelt hatte, verteilten sich Bremsertrupps auf den Zügen und bedienten Vorrichtungen wie diese, um die Bremsbacken in einem unkoordinierten und häufig tödlichen Wechselspiel gegen die Räder zu pressen. Während Cabrillo in die Speichen des Handrades griff, schickte er ein Stoßgebet zum Himmel, dass es bitte nicht vollkommen festgerostet sein möge und dass nach den Jahrzehnten, die dieser Waggon die Gleise befahren hatte, wenigstens noch Reste der Bremsbacken vorhanden sein möchten.
Darauf vorbereitet, seine ganze Kraft einsetzen zu müssen, stieß er einen Fluch aus, als sich das Rad ohne Widerstand drehen ließ. Es fühlte sich an, als wäre es mit keiner irgendwie gearteten Mechanik verbunden, doch dann hörte er das Quietschen von Metall auf Metall, als sich die alten Bremsen auf die Laufflächen der Waggonräder legten. Trotz allem funktionierte die Bremse und war offenbar sogar vor Kurzem erst geschmiert worden. Sein Glück mit einem zufriedenen Grinsen feiernd, führte er eine weitere halbe Drehung aus – und seine Erleichterung verwandelte sich schnell in Enttäuschung. Der zusätzliche Druck hätte die Bremsbacken fester anziehen und für ein lauteres Quietschen sorgen müssen. Doch nichts dergleichen geschah.
Sie hatten Bremsen, sicher. Aber ihre Wirkung war bescheiden.
Das Pig schob den Güterwagen in die Kurve, und Juan verlor die Erzladeanlage aus den Augen, als sie hinter der Hügelkuppe verschwand. Nach rechts hatte er einen ungehinderten Blick auf ein weiteres Tal und, wie als Erinnerung an ihre prekäre Lage, auf eine Reihe von Erzloren, die wahrscheinlich schon vor hundert Jahren aus den Schienen gesprungen waren und wie ausrangiertes Kinderspielzeug aussahen. Dabei konnte er sich vorstellen, dass die Dampflokomotive, die mit den Loren in die Tiefe gestürzt war, das Fünffache der Leistung des Pig gehabt haben dürfte.
»Linc, bist du auf deinem Platz?«, funkte er.
»Ja.«
»Wie schnell sind wir?«
»Achtundzwanzig Meilen in der Stunde.«
»Okay, achte darauf, dass wir nicht schneller als dreißig werden. Die Bremsen des Güterwagens sind nicht mehr die besten.«
»Ist das schlimm?«, fragte Linda über Funk.
»Gut ist es jedenfalls nicht.«
An der Vorderseite des Güterwagens waren Leitersprossen angeschweißt, auf denen Cabrillo nach unten kletterte. Neben ihm befand sich die Stange, die das Handrad auf dem Dach mit einem Schneckengetriebe verband, das die Bremsen aktivierte. Juan schlang die Beine um die vordere Kupplung und stützte sich mit einer Hand auf eine Verstrebung, so dass er unter den Waggon schauen konnte. Rußgeschwärzte Eisenbahnschwellen glitten wenige Zentimeter unter ihm vorbei. Ein Stein hatte sich zwischen der Radstange und dem Schneckengetriebe festgesetzt. Als er das Handrad betätigte, hatte der Stein das Schneckengetriebe so vom Zahnkranz weggedrückt, dass die Stange sich drehte, ohne die Bremsen zu bewegen. Um sich einen besseren Halt zu suchen, streckte er sich, bis er sich mit der Brust unter dem Waggon befand. Unkraut, das im Gleisbett wucherte, peitschte ihm ins Gesicht.
Seine Finger tauchten in die Schmiere, die das Getriebe bedeckte, aber ganz gleich, wie sehr er sich auch anstrengte, er bekam den eingeklemmten Stein nicht richtig zu fassen.
»Verdammter Mist«, murmelte er und griff nach einer seiner beiden automatischen Pistolen im Holster.
Sein Körper schwang hin und her, als er sie aus dem Futteral zog, und für einen Moment blickte er in Fahrtrichtung am Bahngleis entlang. Ein stählerner Kanister war entweder von einem früheren Zug gefallen oder von einem der Arbeitertrupps zwischen den Gleisen vergessen worden. Juan raste mit dreißig Meilen pro Stunde darauf zu und hatte weder die Zeit noch genügend Platz, um sich davor in Sicherheit zu bringen. Mit dem Kopf nach unten hängend zielte er auf den Kanister und eröffnete das Feuer so schnell, wie seine Waffe eben schießen konnte. Die Hochgeschwindigkeitsprojektile aus der FN Five-seveN durchlöcherten die Seitenwand des
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