Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
Schwesternzimmer neben einem Münzautomat standen. Billy, der wieder besser aussah, schraubte gerade den Deckel einer Wasserflasche ab. Ich wollte ihn schon fragen, was sich da vorhin abgespielt hatte, aber das konnte ich mir schenken. Ich wusste es eh schon: Er war auf die Nevins Street zurückgekehrt, wo er Abby zum ersten Mal gesehen hatte, und von dort aus weiter in die Vergangenheit gereist bis zu jenem Tag, an dem sich sein Leben von Grund auf geändert hatte. Wieso aber ausgerechnet der heutige Krankenbesuch einen Flashback auslöste, verwunderte mich. Doch bevor ich ihn darauf ansprechen konnte, wurde ich abgelenkt. In Abbys Zimmer schluchzte Linda laut auf, und man konnte hören, wie Steve sich alle Mühe gab, seine Frau zu beruhigen.
Auf der Wanduhr war es halb elf. Ich kam ins Grübeln. War es klug gewesen, die bisweilen tollpatschige und unpünktliche Star zu bitten, Ben vom Kindergarten abzuholen und zu meiner Mutter zu bringen? Ihr unser Kind anzuvertrauen? Meine Zweifel erinnerten mich daran, dass ich so schnell wie möglich einen neuen Babysitter für unser Kind suchen sollte. Doch da gab es ein Problem: Ich war nicht gewillt, eine Fremde einzustellen, sondern wollte Chali zurückhaben.
»Lass uns gehen«, sagte ich zu Mac. »Wir haben hier nichts verloren.«
»Stimmt«, pflichtete Mac mir bei und wandte sich an Billy. »Kommst du mit uns?«
»Ich denke, ich bleibe noch eine Weile.«
Ich starrte ihn an. Ihn hier allein zurückzulassen war genauso unverzeihlich, wie sich auf Star zu verlassen.
»Mac, ich könnte Billy doch Gesellschaft leisten. Dann kannst du nach Hause gehen und arbeiten.«
»Bist du sicher? Ich kann auch bleiben«, schlug er vor, doch mir konnte er nichts vormachen: Er fühlte sich unter Druck, weil er wegen der Grippe seinen Job vernachlässigt hatte.
»Klar. Doch würdest du bitte nach Mutter sehen, bevor Ben bei ihr eintrifft? Sie hatte gestern Abend wieder schlimme Rückenschmerzen.«
»Wird gemacht.« Mac gab mir einen Kuss auf die Wange und wandte sich dann seinem Freund zu. »Wir reden später, Billy.« Dann ging er fort.
»Karin, ein Kindermädchen brauche ich nicht.« Billy schraubte den Deckel so fest auf die Wasserflasche, dass man glauben konnte, das Plastik würde zerspringen.
»Ach ja? Weil du dich vorhin beinah wieder aus der Realität verabschiedet hast.«
Er öffnete erneut die Flasche, trank einen Schluck Wasser und schraubte diesmal den Deckel nicht ganz so fest zu. »Mach, was du willst. Das ist ein freies Land.«
Kurz darauf kamen Steve und Linda Campbell aus dem Zimmer. Er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und führte sie den Korridor hinunter – wie beim letzten Mal. Sehr merkwürdig. Wieso hatten Reed und Marta Dekker eine Frau, die sich nicht im Griff hatte, zum Vormund ihrer Tochter auserkoren?
»Was hat sie denn?«, fragte ich Billy.
»Keine Ahnung.« Obgleich seine Stimme fast wieder normal klang, schwang da ein Echo der Taubheit mit, die ihn vorhin übermannt hatte.
In dem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Abby verhielt sich ganz ähnlich wie Billy, wenn er einen PTBS-Anfall bekam. In dem Zustand war er nicht anwesend, sondern befand sich irgendwo anders. Eine unsichtbare Macht ergriff so sehr Besitz von ihm, dass er unerreichbar war.
Wir gingen wieder zum Eingang von Abbys Zimmer. Sasha war dort, und ihr besorgter Blick ruhte auf dem Mädchen. Abby guckte aus dem Fenster, vor dem eine von Raureif überzogene Stadtlandschaft aufragte; aber wer konnte schon sagen, was sie tatsächlich sah.
Nach den Erlebnissen in jener grauenvollen Nacht verwunderte es kaum, dass sie schwer traumatisiert war. Immerhin war sie auf einer heruntergekommenen Straße von einem Auto angefahren worden und hatte aller Wahrscheinlichkeit nach miterlebt, wie ihre Eltern getötet wurden. Vielleicht wollte sie nur schlafen. Oder nicht wahrhaben, dass sie Mutter und Vater verloren hatte. Erklärungen für ihr Verhalten gab es viele. Wenn sie nur den Mund aufmachen und uns alles erzählen würde.
»Tut mir leid, dass ich Sie umsonst hierhergerufen habe.« Sasha konsultierte ihr Klemmbrett. »Wir melden uns, sobald eine Veränderung eintritt.«
»Kann ich noch ein bisschen bleiben?«, fragte Billy »Ihr etwas vorlesen? Da Vater X ..«
Sasha hob den Finger, legte ihn auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
Auch wenn Abby beharrlich schwieg, bedeutete dies nicht, dass sie nichts hörte. Es war durchaus möglich, dass die Nachricht von der Erkrankung
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