Karneval der Toten
nicht.«
Damit wären wir also zu viert – oder fünft, wenn man Lord Warburton mitrechnete. »Das ist ja merkwürdig. Ich hätte gedacht, Ihr Landschaftsarchitekt wüsste darüber bestens Bescheid.«
»O, Bescheid weiß er, er hat sie nur noch nie verwendet. Vielleicht findet er, man sollte es gar nicht machen. Ich fürchte, Sie sind da ganz auf sich gestellt.«
Gott sei Dank!
Melrose wollte das Gespräch auf die kleine Flora Baumann lenken, ohne sie jedoch selbst zur Sprache zu bringen. Er starrte auf sein Glas und verwarf eine einleitende Bemerkung nach der anderen. Lulu. »Lulu ist die Nichte Ihrer Haushälterin, wie ich höre.«
»Großnichte. Ihre Eltern kamen bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Sie ist ein wenig schüchtern, bis sie einen besser kennen lernt.«
Melrose hätte sich beinahe an seinem Whiskey verschluckt. Schüchtern? »Dann müssen Sie ja an sehr forsche Kinder gewöhnt sein. Ich fand sie alles andere als schüchtern. Ich glaube, sie ist ziemlich gerissen.«
»Gerissen?«
»Klar. Nun ja, ich bin Kinder nicht gewöhnt, ich könnte mich auch total irren. Ich hatte selbst nie Kinder.« Er musterte Declan. Es war, als hätte Melrose ihn verletzt.
»Ich schon. Na gut, ein Stiefkind, aber sie war für mich wie ein eigenes. Sie ist verschwunden.«
»Was?«
»Erst dachten wir, sie wäre entführt worden. Das glaube ich immer noch. Aber theoretisch, wenn kein Lösegeld verlangt wird...« Declans Stimme verlor sich.
»Wieso? Es gibt auch noch andere Gründe, ein Kind zu verschleppen. Wie oft hört man, dass ein Baby aus dem Krankenhaus gestohlen wird oder aus dem Kinderwagen, während die Mutter in einem Laden ist. Da kommt auch keine Lösegeldforderung.«
»Ich weiß. Was mir dabei am meisten zu schaffen machte, war meine Angst, die Polizei würde einer so genannten Verschleppung nicht ebenso tatkräftig nachgehen wie einer Entführung. Ich glaube aber, sie haben getan, was sie konnten. Sie haben sich wirklich sehr bemüht. Flora und Mary machten einen Ausflug nach Heligan – in die Verlorenen Gärten, Sie haben wahrscheinlich davon gehört. Flora wurde verschleppt. Das war vor drei Jahren. Wir haben sie nie wieder gesehen.«
Es war, als wäre ein Licht in dem Mann ausgegangen, um ihn herum schien sich plötzlich alles zu verdüstern, so dass man meinte, eine umgekehrte Filmentwicklung zu sehen, zurück zum fehlenden Bild, zurück zum Nichts.
18
Am nächsten Tag dämmerte es kalt und klar. Nicht, dass Melrose schon auf den Beinen gewesen wäre. Er fragte sich manchmal, wie es sich wohl anfühlte, in aller Herrgottsfrühe auf zu sein, seine Neugier war aber nie so groß, dass er es hätte ausprobieren wollen.
Hier unter dem Dach und (zumindest bildlich gesprochen) in Lohn und Brot eines anderen Dienstherrn stehend, war ihm jedoch klar, dass er vor zehn auf den Beinen zu sein hatte (zu einer Zeit also, zu der er sich gewöhnlich aus dem Bett bequemte), und er war bereit, dieses Opfer zu bringen. Besonders an diesem ersten Morgen, an dem er noch vor dem Eintreffen der Macmillans »die Gartenanlage gründlich in Augenschein nehmen« wollte. Nach ihrer Ankunft hatte er nämlich vor, zur »Materialbeschaffung« nach St. Austell zu fahren.
Er war also auf den Beinen, angetan mit seiner Kappe und einer Wildlederjacke mit Schaffellkragen, die er in Sidbury erstanden und von Ruthven ein wenig hatte bearbeiten lassen, damit sie alt und abgetragen aussah. Ruthven hatte behauptet, die Jacke sei bereits ganz schön bearbeitet, falls sich ein Kleidungsstück so beschreiben ließ, das derart miserabel geschneidert war, dass kein Mensch mit Geschmack das Ding tragen würde. Auf Melrose’ Beharren hin hatte er sich jedoch mächtig ins Zeug gelegt, und so war sie nun zerknautscht, rissig und ölverschmiert, und vom Schaffellkragen fehlten ein paar Stückchen.
Als Melrose die Cottagetür öffnete, überraschte ihn Lulu, die plötzlich mit ihrem Hund dastand, ein kleines Tablett in den Händen. Beide starrten zu ihm hoch, Lulu und Roy. »Guten Morgen, Lulu.«
»Hier, Ihr Tee.« Mit dem gleichen Ausdruck freundlicher Gefälligkeit, mit der in Der Mann mit der Eisernen Maske der Gefängniswärter das Tablett durch den Zellenschlitz schob, streckte sie ihm das Tablett entgegen.
Dann rannte sie davon, und während er ihr nachschaute, fragte er sich, ob Jury wohl schon mit ihr gesprochen hatte. Hastig kippte er seinen Tee hinunter und machte sich mit seiner Pfeife in der Brusttasche auf den Weg in den
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