Karrieresprung
an, überlegend, ob er sie mit seinen vagen Andeutungen nur ködern wollte. Dann nahm sie ihn wortlos mit ins Haus. Der Flur sah aus wie im Hause Nummer 8. Sie wohnte im dritten Stock. Das schwache Flurlicht reichte nicht aus, um das unter dem Klingelknopf neben der Wohnungstür angebrachte Türschild mit schnellem Blick zu lesen.
Ihm gefiel, dass nur ein Name auf dem Schild stand.
Sie wies ihn an, durch die Diele ins Wohnzimmer zu gehen und zu warten, bis sie geduscht habe.
Er setzte sich in ein altes Sofa, betrachtete den ausgetretenen grauen Teppichboden, der ihn an sein Mansardenbüro erinnerte, und die schlichten Standregale, in denen sich übereinander geschichtete Taschenbücher mit Topfpflanzen abwechselten. An den hohen Fenstern hingen keine Gardinen. Kastanienwein und bräunlich gewordene Farne rankten aus großen Blumenampeln in die Fensternischen hinein und kaschierten etwas die hölzernen Fensterrahmen, die mit dick tränendem weißem Lack überzogen waren.
Er stand auf und griff aus einem Regal wahllos eines der Taschenbücher heraus. Ohne auf den Titel zu achten, schlug er die erste Seite auf. »Marie Schwarz, l0a«, stand da. Eine Schullektüre. Er blätterte weiter. Viele der gelblich gewordenen Seiten waren mit Anmerkungen, Pfeilen und Strichen versehen. Das Buch war von ihr durchgearbeitet, durchgedacht. Ihre in steiler Schrift geschriebenen Worte gliederten und analysierten.
Knobel hatte Interpretationen im Deutschunterricht nicht gemocht. Er empfand sie als langweiliges Sezieren einzelner Sätze und Worte. Die freigelegten Stücke offenbarten ihm wenig.
Als er aus dem Bad Wasserrauschen hörte, stellte er das Buch zurück, schlich die dunkle Diele entlang und blieb vor der Badezimmertür stehen. Das gewellte milchige Glas im Türfenster ließ die Konturen im erleuchteten Bad verschwimmen. Knobel verharrte vor der Tür und schämte sich nicht seiner Neugier. Schemenhaft sah er ihren schmalen Körper vor den blauen Fliesen, umrisshaft ihre Hände, die ihn umspielten. Der Seifenschaum glitt in schaumigen Schlieren an ihr herab. Er konnte das Wasser nicht sehen, er ahnte es nur, wenn sie sich unter dem Strahl bewegte und auf ihrer hellen Haut im Licht funkelte. Knobel sog das Bild mit unschuldiger Lust ein. Er wollte die Tür nicht öffnen, Marie nicht berühren. Er stand nur vor dem Fenster und wollte sie erahnen.
Als sie das das Wasser abdrehte, wich er in die Dunkelheit zurück und eilte ins Wohnzimmer.
Ihre Haare waren noch nass, als sie zu ihm kam.
»Kaffee?«
Er nickte.
»Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich die Zeit nehmen«, sagte er.
Sie hantierte an der Kaffeemaschine und füllte Pulver ein.
Er betrachtete das schlichte und abgenutzte Inventar ihrer Küche. Das Spülbecken war mit benutztem Geschirr gefüllt. Eine Plastiktüte mit Abfällen dünstete fauligen Geruch aus.
»Ich habe Weinstein noch nie gesehen«, erklärte sie.
Knobel setzte sich an ihren alten Küchentisch.
»Weinstein hat Rosenboom verklagt. Er will Geld zurück, dass er Rosenboom angeblich geliehen hat.«
Sie sah ihn fragend an.
»Und?«
Er schwor sie auf ihre Verschwiegenheit ein, und sie versicherte sie amüsiert, während sie eine Kerze anzündete.
Knobel ermahnte sie zur Ernsthaftigkeit und nahm ihr den Schwur ein zweites Mal ab.
Sie schenkte Kaffee ein, und dann berichtete er alles, was er wusste, erzählte vom Ausgang des ersten und dem Beginn des zweiten Prozesses Weinstein gegen Rosenboom. Er stellte seine Fragen, die er niemandem sonst stellen konnte. Frage folgte auf Frage, und er verwies auf Rosenbooms eigene Prognose, wonach der Prozess ohnehin verloren gehe und erklärte seine angesichts des sinnlosen Prozesses fragwürdige Aufgabe.
Sie hörte interessiert zu, tauchte Kekse in den Kaffee und schmatzte sie genüsslich.
»Also geht es eigentlich nur darum, ein Märchen für das Gericht zu erfinden«, folgerte sie.
Knobel bekannte, dass ihm nichts einfalle. Er entsann sich seiner Ausgangsfrage.
»Was ist mit dem Keller?«
»Es stehen noch immer die alten Klamotten drin. Der Schlüssel steckt jetzt außen im Schloss. Sogar mit Reserveschlüssel. Alles ist wie vorher. Aber es sind jetzt ein paar Klebestreifen an der Wand.«
»Klebestreifen?«
»Als hätte jemand dort Papier oder Fotos aufgehängt. Die Streifen sind über Eck angeordnet.«
Sie zeichnete mit ihren Fingern auf dem Tisch ein Rechteck, dessen Ecken mit diagonal darüber laufenden Klebebändern fixiert wurden.
»Warum sollte
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