Karrieresprung
Dr. Reitinger zu vertreten«, fuhr Dr. Hübenthal fort. »Er fällt wegen Krankheit auf unabsehbare Zeit aus.«
»Die Sache mit seiner Frau belastet ihn wohl schwer«, vermutete Knobel.
»Es ist das Herz«, erklärte der Senior, »Reitinger hat bedrohliche Herzrhythmusstörungen. Natürlich können Sie seine Akten in seinem Büro bearbeiten. Reitingers Sekretärin wird für Sie arbeiten.«
Knobel tat der kranke Kollege leid, aber er sah es emotionslos. Es war nicht nur die persönliche Ferne zu Dr. Reitinger, die ihn davor schützte, betroffen zu sein. Seine eigene glückliche Welt hatte ihn schützend umwoben und verteidigte ihn gegen alles Unangenehme, das von außen auf sie einzustürzen drohte. Knobel wollte, dass es in seiner Welt so weiterginge wie bisher und übermittelte mit einem lustigen Postkartenmotiv baldige Genesungswünsche an den kranken Kollegen.
Dr. Reitinger hatte sein Büro in dem bekannten Durcheinander hinterlassen.
Knobel setzte sich an den Schreibtisch und bat Dr. Reitingers Sekretärin über die Sprechanlage zu sich. Knobel wies sie an, das Chaos auf dem Schreibtisch zu ordnen. Frau Klabunde begann missmutig, in dem Aktenstapel zu wühlen, und Knobel registrierte befriedigt ihre aufkeimende Nervosität.
»Der Herr Doktor hat sich immer darin zurechtgefunden«, entschuldigte sie, hoffend, von der unangenehmen Aufgabe wieder entbunden zu werden.
»Es wird sich hier viel ändern«, sagte Knobel mit schneidendem Unterton und trug ihr auf, binnen vier Stunden das Gröbste zu erledigen. Bis dahin wolle er sich in 307 zurückziehen.
Als er erneut in 102 erschien, waren die Akten auf dem Schreibtisch nach Posteingängen und Fristen sortiert und zu sorgfältigen Stapeln geschichtet. Die Schreibtischunterlage war von Notizzetteln und Stiften befreit und gesäubert worden.
Frau Klabunde wechselte aufgeregt zwischen dem Büro und ihrem benachbarten Sekretariat hin und her, schaffte Unterlagen herbei und wieder weg und beeilte sich, die aus dem Computer abgeforderten Ausdrucke zusammenzustellen und zu erläutern.
Knobel sichtete kritisch die Unterlagen, während Frau Klabunde unter seiner Strenge litt, nach der ihm plötzlich war. Es gefiel ihm, unnahbar zu sein. In 102 machte er einen Neubeginn. Es gab kein Ertasten der neuen Umgebung, kein Einleben, kein Gestalten von Kulissen. Er hatte sich gesetzt und gleich mit der Arbeit begonnen.
Frau Klabunde sehnte sich nach Dr. Reitinger zurück und betete für dessen Genesung, die kommende Zeit fürchtend, barg sie doch offensichtlich den nahen Abschied von lieb gewonnenen Gewohnheiten.
Knobel genoss ihre verzweifelte Unterwerfung, und er entließ sie mit einer flüchtigen Handbewegung wieder in ihr Zimmer.
Knobel brauchte nicht lange, bis er in vielen Akten ein stets gleiches Prinzip entdeckte. Dr. Reitinger hatte Fälle geteilt und aus ein und derselben Sache zwei oder sogar noch mehr Vorgänge gemacht.
Dies war ohne Zweifel unpraktisch, erhöhte aber die Fallzahlen.
Frau Klabunde gestand weinerlich, dass der Doktor der Übersichtlichkeit halber dies schon länger praktiziert habe.
Knobel fiel in ein grunzendes Lachen, demjenigen von Löffke nicht unähnlich, und ordnete an, dass sie die mehrbändigen Akten zusammenführen und die künstlich geschaffenen Aktenzeichen löschen solle. Knobel begann, Dr. Reitingers Aktenbestand mit rückhaltloser Gründlichkeit zu lichten und zu säubern.
Beim nächsten Gang ins Dubrovnik trug er Dr. Hübenthal die aufgedeckten Missstände vor. Es war ein Verrat ohne Not und ganz nebenbei, aus dem Gespräch heraus begangen, eine erzählenswerte Episode wie ein gerade gewonnener Prozess. Er hatte im Detail berichtet, aber der Senior hatte ihn nicht gelobt, und Knobel hatte sich unvermittelt als Verräter gefühlt.
Knobel wollte das Gesagte ungesagt machen und gelobte insgeheim, Dr. Reitinger nach dessen Rückkehr dauerhaft zu entlasten. Sein Schuldbewusstsein bemühte die Kette aller Faktoren, die sich unheilvoll ausgewirkt hatten, und wies ihnen Mitverantwortung zu, ohne dass es ihm gelang, sich rein zu waschen. Die Zeit würde die Schuld verblassen und den Verrat vergessen lassen. Er setzte auf die Zeit.
Als sie vom Dubrovnik zurückkamen, zählte er die Stufen hinauf zu seinem Büro. Würde die Summe eine gerade Zahl sein, geriete die Sache in Vergessenheit.
Das Schicksal meinte es gut mit ihm, denn er zählte vierundvierzig Stufen. Knobel suchte in verfahrenen Situationen nach Gottesurteilen.
26
Marie
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