Kartiks Schicksal
Sie sind fort.«
Ein paar von den jüngeren Mädchen kommen, um Ann zu gratulieren und ihr zu sagen, dass sie eine wunderbare Prinzessin war. Ann sonnt sich in ihrem Lob und lächelt schüchtern über jedes Kompliment.
Plötzlich sind meine Ohren von einem zischenden Geräusch erfüllt, das immer lauter wird, ein Zischen, wie wenn man eine Gaslampe aufdreht. Ich bekomme keine Luft mehr. Mir ist, als würde an jedem Teil meines Körpers jemand ziehen. Alles purzelt durcheinander. Die Zeit verlangsamt sich. Ich sehe, wie die Mädchen sich im Schneckentempo bewegen. Ihr Lachen klingt leise und hohl. Anns Mund formt Worte, die so langsam aus ihrem Mund kommen, dass ich sie nicht verstehen kann. Nur ich allein scheine mich mit normaler Geschwindigkeit zu bewegen. Es ist, als sei ich als Einzige wirklich lebendig.
Ich drehe mich den Bäumen zu und ein eisiger Schauer durchrieselt mich. Die Komödianten haben sich gleichfalls nicht verlangsamt. Während sie dem Wald zustreben, scheinen sie immer mehr zu verblassen, bis nur noch ihre Umrisse zu sehen sind. Vor meinen erstaunten Augen verwandeln sie sich in Raben und fliegen fort, dunkle Schatten, deren Flügelschläge Unheil kündend die stille Luft aufrühren. Das gewaltige Ziehen hat aufgehört, aber ich fühle mich so ausgepumpt, als sei ich meilenweit gerannt.
Jetzt sprudeln die Worte laut aus Anns Mund. »… meint ihr nicht? Gemma? Was machst du denn für ein Gesicht?«
Ich packe Ann zu fest am Arm und sie zuckt zusammen. »Gemma!«
»Hast du das gesehen?«, keuche ich.
»Was denn?«
»Die Komödianten. Sie … sie waren da und dann … haben sie sich in Vögel verwandelt und sind fortgeflogen.«
Ein gekränkter Ausdruck tritt in Anns Augen. »Ich hab sie nicht gebeten, mich dir vorzuziehen.«
»Was? Nein, das ist es überhaupt nicht!« Ich spreche jetzt ganz ruhig. »Glaub mir, im einen Moment waren die Komödianten da und im nächsten verwandelten sie sich in Vögel … genauso wie …« Es überläuft mich kalt. »Genauso wie die Klatschmohnkrieger.«
Ann starrt in die Dunkelheit. Die Laternen der Komödianten schimmern durch die Bäume und werden immer kleiner. »Tragen Vögel Laternen?«
»Aber ich …«,sage ich, mehr nicht. Ich bin nicht mehr sicher, was ich gesehen habe.
»Ann Bradshaw! Warum hast du uns nie gesagt, wie brillant du bist?«, ruft Elizabeth aus. Sie und Martha nehmen Ann in die Mitte und Ann schwimmt glücklich mit dem Strom.
Ich stehe allein in der Tür und suche nach irgendeinem Zeichen, dass ich mir das, was ich gesehen habe, nicht nur eingebildet habe. Aber der Wald ist still. Eugenias Stimme hallt in meinem Kopf wider: Sie könnten Ihre Sinne täuschen. Es wird sein, als seien Sie verrückt geworden. Ich drehe mich um und sehe Mrs Nightwing und Miss McChennmine plaudern. Kalter Schweiß bricht auf meiner Stirn aus und ich wische ihn weg.
Nein, ich will nicht hören, was sie sagen. Ich bin nicht ihr Pfand und ich bin nicht wahnsinnig.
»Die Dunkelheit hat deinen Augen einen Streich gespielt, Gemma«, sage ich, um mich zu trösten. »Es war nichts, nichts, nichts.«
Ich wiederhole das Wort bei jedem Schritt, bis ich überzeugt bin, dass es stimmt.
*
»Ist das nicht wundervoll? Ganz wie in alten Zeiten«, sagt Ann, als wir uns zum Schlafengehen fertig machen.
»Ja«, sage ich, während ich mein Haar bürste. Meine Hände zittern immer noch und ich bin froh, dass Ann heute Abend wieder in ihrem Bett schläft.
»Gemma«, sagt sie, als sie mein Zittern bemerkt. »Ich weiß nicht, was du im Wald gesehen zu haben meinst, aber dort war nichts. Du musst es dir eingebildet haben.«
»Ja, du hast recht«, sage ich.
Und das ist es, was mich am meisten erschreckt.
45. Kapitel
Ich habe keine Lust aufzuwachen. Nicht nur ein Mangel an Schlaf steckt mir in den Gliedern. Ich fühle mich nicht wohl. Mein Körper tut weh und meine Gedanken sind schwerfällig. Mein Wesen vermischt sich mit allem anderen – den Stimmungen und Gefühlen anderer, dem schmerzhaften Sonnenlicht, den zahllosen Sinneseindrücken –, bis ich nicht mehr sagen kann, wo die Welt anfängt und wo ich aufhöre.
Alle anderen sind quirlig und in fieberhafter Aufregung vor dem nahenden Maskenball. Die Mädchen können es nicht lassen, probeweise in ihren Kostümen herumzuspazieren. Sie drängen sich vor den Spiegeln: Prinzessinnen und Elfen mit prächtigen, mit Federn und Perlen geschmückten Masken. Alles, was sie sehen können, sind ihre Augen und Münder.
Mrs
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