Kartiks Schicksal
Nightwing tritt ein und klatscht in die Hände. »Auf zur Probe, meine Damen.«
Die Jüngeren haben auf dem Boden zu sitzen, während Mrs Nightwing unsere Vorführungen mit dem Charme und der Großzügigkeit einer Gefängniswärterin beaufsichtigt: »Miss Eaton, spielen Sie auf dem Klavier oder ermorden Sie es?« – »Meine Damen, Ihre Knickse müssen so leicht wie Schneeflocken sein, die zur Erde fallen! Miss Fensmore, das ist keine Schneeflocke, sondern eine Lawine.« – »Miss Whitford, nicht so zaghaft, bitte, Sie sollen lauter singen. Es genügt nicht, dass der Fußboden Ihre Stimme hört, denn der kann nicht applaudieren.«
Als Mrs Nightwing mich auffordert, mein Gedicht vorzutragen, habe ich einen Stein im Magen. Es behagt mir überhaupt nicht, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Mein Kopf ist blockiert. Die Mädchen sehen mich voller Erwartung, Langeweile, Mitleid an. Mrs Nightwing räuspert sich und es ist, als würde ein Gewehr abgefeuert, um den Startschuss zu einem Rennen zu geben. Ich lege los.
»Rose aller Rosen, Rose der ganzen Welt …«
Mrs Nightwing unterbricht mich. »Gütiger Himmel, Miss Doyle! Ist das ein Derby oder der Vortrag eines Gedichts?« Unterdrücktes Lachen regt sich.
Ich beginne noch einmal und bemühe mich, so gut ich kann, meine Stimme und den Rhythmus in den Griff zu bekommen, obwohl mein Herz so heftig schlägt, dass ich nur ganz flach atmen kann. »Vergiss die Schlachten, die du nie geschlagen, / Ruf ich mir zu, als sie sich nacheinander aus dem Dunkel wagen. / Der sucht nicht die Gefahr und seinen Frieden nicht im Streit, / Des’ Herz von Liebe singt in Zeit und Ewigkeit. «
Beim Wort Liebe fangen die jüngeren Mädchen wieder an zu kichern und ich muss warten, bis Miss McChennmine sie zur Ordnung gerufen hat. Mrs Nightwing nickt mir zu, ich soll fortfahren.
»Rose aller Rosen, Rose der ganzen Welt!/Nun bist auch du an jenen Strand bestellt, / Wo trübe Flut den Kai der Sorgen überspült. / Und hörest bang die Glocke, die uns ruft, den süßen, fernen Klang …« Ich schlucke einmal, zweimal. Sie sehen mich so erwartungsvoll an und ich habe das Gefühl, was immer ich tue, ich werde sie enttäuschen. »Äh … › Ewige Schönheit … ewige Schönheit, müde ihrer selbst und leer …‹ « Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich möchte weinen und weiß nicht, warum.
»Miss Doyle?«, ruft Mrs Nightwing. »Haben Sie die Absicht, eine dramatische Pause einzulegen? Oder sind Sie in einen katatonischen Zustand verfallen?«
»N-nein. Ich habe nur meinen Text vergessen«, murmle ich. Nur nicht weinen, Gemma. Um Himmels willen, nicht hier. » Ewige Schönheit, müde ihrer selbst und leer / Macht’ dich uns gleich, gleichwie dem öden, grauen Meer. / Unsere Schiffe sind vertäut, die Segel aus Gedanken eingeholt, /Des gleichen, unabänderlichen Schicksals harrend, das Gott gewollt. / Und wenn sie dann versenkt, besiegt in Seinen Kriegen / Unter denselben weißen Sternen auf stillem Grunde liegen, / Wird endlich auch dem stummen Schrei Gehör gegeben / Unserer sehnsuchtsvollen Herzen, die nicht sterben können und nicht leben. «
Mir folgt ein halbherziger Applaus, als ich von der Bühne trete. Mrs Nightwing sieht mich mit erhobenem Kopf durch den unteren Teil ihre Brille durchdringend an. »Daran muss noch gearbeitet werden, Miss Doyle. Ich hatte mir mehr erhofft.«
Alle scheinen sich mehr von mir erhofft zu haben. Ich bin eine einzige Enttäuschung.
»Ja, Mrs Nightwing«, sage ich und wieder brennen Tränen in meinen Augen. Denn im Grunde möchte ich, dass sie mit mir zufrieden ist, trotz allem.
»Nun gut«, sagt Mrs Nightwing weicher gestimmt. »Also üben Sie noch ernsthaft, ja? Miss Temple, Miss Hawthorne und Miss Poole, ich glaube, wir sind bereit für Ihr Ballett.«
»Sie sollen stolz auf uns sein, ja, wirklich, Mrs Nightwing«, ruft Cecily. »Denn wir haben sehr ernsthaft geübt.«
»Ich bin froh, das zu hören«, erwidert unsere Direktorin.
Verdammte Cecily. Immer diese gottverfluchte Überheblichkeit. Hat sie jemals blutbefleckte Träume? Machen Leute von ihrer Sorte sich je Gedanken über irgendetwas? Leben in ihrem kostbaren Kokon, in den nichts Störendes eindringen kann.
Cecily schwebt mit vollkommener Anmut über den Boden. Ihre Arme wölben sich über ihren Kopf, als beschirmten sie sie vor allem Leid. Ich hasse ihre Selbstgefälligkeit und Sicherheit und gleichzeitig beneide ich sie darum.
Bevor ich etwas dagegen tun kann, braust die
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