Kartiks Schicksal
dreht sich zu mir und in dieser Sekunde ergreift der dunkle Geist der Winterwelt seine Chance. Mit einer raschen, grausamen Bewegung schlägt er seine rasiermesserscharfen Krallen in den Bauch des Wasserspeiers und schlitzt ihn auf. Der Wasserspeier wankt auf mich zu und bespritzt mein Cape mit seinem Blut.
»In die Winterwelt«, keucht er. »Fällt den Baum Aller Seelen. Das ist die einzige Möglichkeit.«
Das mächtige Ungetüm bricht zu meinen Füßen zusammen. Der Reiter öffnet den Mund und brüllt seinen Schlachtruf in die Nacht.
Ich laufe blind in die andere Richtung. Die Angst sitzt mir so sehr im Genick, dass ich mein eigenes Schreien nicht höre. »Lauft!«, rufe ich in der verzweifelten Hoffnung, dass die anderen mich hören.
»Gemma! Gemma!« Es ist Felicitys Stimme.
»Felicity!«, rufe ich zurück.
»Gemma, hier!«
Eine Hand schält sich aus dem Nebel und ich greife nach ihrer Wärme. Felicity umarmt mich. Wir ziehen uns gegenseitig weiter und erreichen als Erste den Turm. Fowlson, Miss McChennmine, Ann und Kartik folgen in kurzem Abstand.
»Das ist es«, keuche ich. »Das geheime Tor.«
»Los, nun machen Sie schon«, stößt Miss McChennmine schwer atmend hervor.
Ich strecke meine Hand aus und dann sehe ich den Raben. Sein Krächzen ist wie ein Ruf aus der Hölle. Eine Warnung. Ein Schlachtruf. Innerhalb von Sekunden sind da Dutzende dieser schrecklichen Vögel. Sie verwandeln sich vor meinen entsetzten Augen in die Komödianten, die uns besucht hatten. Doch das ist nur eine Verkleidung. Ich weiß, wer sie sind: die Klatschmohnkrieger.
Der Anführer nimmt seinen Hut ab und verbeugt sich tief, und als er sich aufrichtet, sehe ich die dunklen Ringe um seine Augen. Die mit roter und schwarzer Tusche gezeichneten Klatschmohnblüten entlang seinen Armen.
»Hallo, Püppchen. So ein schöner Abend für unser Opfer.«
Die anderen Vögel streifen ihr glänzendes schwarzes Gefieder ab und verwandeln sich ebenfalls in jene grausigen Ritter. Mit Schaudern denke ich an die verfallene Kathedrale, die sie ihr Heim nennen. Die bösen Spiele, die sie mit ihren Opfern treiben.
»Wohin des Wegs, hä?«, fragt der Anführer und grinst wie eine Totenmaske. Seine schmutzigen Fingernägel sind so lang wie Krallen.
»Ich … ich …«,stammle ich.
Kartik hat sein Messer gezückt, aber gegen diese Übermacht wird es nichts ausrichten können.
»Hol mich der …«, keucht Fowlson. »Aus welchem Höllenloch ist der da rausgekrochen?«
Miss McChennmine wirft sich zwischen mich und den Klatschmohnkrieger. Sie schlingt die Arme um mich wie eine Mutter, doch das kostet die Scheusale nur ein gackerndes Lachen.
»Vergebliche Liebesmüh, Mylady«, knurrt der eine mit nur drei Zähnen.
»Meine Damen und Herren!«, ruft einer der Klatschmohnkrieger wie ein Theaterdirektor. »Heute Abend bieten wir Ihnen ein äußerst eindrucksvolles Spektakel zu Ihrer Erbauung! Die Geschichte einer Jungfrau, die einem höheren Zweck geopfert wird: um die Freiheit der Winterwelt zu garantieren und alle Zauberkraft deren Bewohnern zu spendieren. Um die Grenze zwischen den Welten für immer zu öffnen. Ist hier niemand, der bereit ist, diese holde Jungfrau zu retten?« Sein Mund verzerrt sich zu einem höhnischen Grinsen. »Nein. Heute Nacht wohl nicht, denke ich. Denn so steht es im Skript und sie muss ihre Rolle wie vorgesehen spielen.«
»Lauft!«, rufe ich.
Ich renne, so schnell ich kann, zur Schule und die anderen folgen mir auf dem Fuße. Die Klatschmohnkrieger nehmen die Verfolgung auf, ein Schwarm Raben, der sich hinter uns in die Luft erhebt. Wir stürzen durch die Küchentür mit ihrem verblassenden blutigen Zeichen und lassen uns schwer atmend auf den Boden fallen.
»Sind wir alle hier? Gemma, bist du verletzt?«, fragt Kartik.
»Was’n das für eine Höllenbrut?«, keucht Fowlson.
»Klatschmohnkrieger«, sage ich. »Mit denen wollen Sie bestimmt nicht spielen, Mr Fowlson, das versichere ich Ihnen.«
»Sie … sie sind hinter uns her. Sie kennen sich aus«, sagt Ann.
»Wie sollen wir jetzt zum Tor kommen?«, jammert Felicity.
Das Licht in der Küche ist schwach, aber ich kann die Angst in Miss McChennmines Augen sehen. Der Flügel eines Raben schlägt gegen das Fenster. Er signalisiert den anderen, wo wir sind.
»Hier können wir nicht bleiben«, sage ich. »Wir müssen versuchen, von innen zum Turm zu gelangen.«
Der lange Flur hinter der Tür ist dunkel und bedrohlich. An seinem Ende könnte alles Mögliche lauern.
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