Kartiks Schicksal
ihren dunklen Rücken vor dem Licht des Mondes wirken sie fast lebendig, als könnten sie ihre Flügel entfalten und sich emporschwingen.
Meine Hände beginnen zu kribbeln, und bevor ich noch einmal Luft holen kann, bahnt sich das Kribbeln seinen Weg durch mein Blut mit einer Gewalt, die mich auf die Knie zwingt. Die Magie ist stark. Sie rast in mir wie ein Tier, das herauswill. Panische Angst packt mich; wenn ich es nicht freilasse, wird es mich zerreißen.
Ich stolpere in den Rosengarten und lasse meine Hände über die schlafenden Knospen gleiten. Auf der Spur meiner Finger explodieren die Blüten in einer Symphonie von Farben, wie ich sie noch nie gesehen habe – von tiefstem Rot zu zartestem Rosa, von cremigem Weiß zu leuchtendem Gelb, strahlend wie die Sommersonne. Als ich das Ende des Gartens erreicht habe, ist der Frühling zu jeder Rose gekommen. Er ist auch zu mir gekommen, denn ich fühle mich herrlich – stark und lebendig.
»Ich habe das gemacht«, sage ich und betrachte meine Hände, als seien es nicht die meinen. Aber sie sind es. Mit ihnen habe ich Rosen in meiner Welt zum Erblühen gebracht. Und das ist erst der Anfang. Nicht auszudenken, was ich mit dieser Zauberkraft alles verändern kann, verändern muss – für mich, für Felicity und für Ann. Sobald wir unsere Zukunft gesichert haben, werden wir ein Bündnis im Magischen Reich schließen.
Die Magie drängt mich zum Ostflügel hin. Ich lege eine Hand an den halb fertigen Turm und fühle, wie mich Energie durchpulst, als seien das Land und ich eins. Die Erde unter meinen Füßen ist plötzlich erleuchtet. Eine Reihe von Linien erscheint auf dem Boden wie Wege auf einer Landkarte. Eine Linie führt weit über den Hügel zum Lager der Arbeiter. Eine andere schlängelt sich durch den Wald zur Kapelle. Eine dritte weist in die Richtung der alten Höhle, wo wir zum ersten Mal den Sprung ins Magische Reich gewagt haben. Aber am hellsten leuchtet es da, wo ich stehe. Die Zeit hat sich verlangsamt. Licht sickert durch die Ränder des geheimen Tors. Ich fühle, wie es mich dorthin zieht. Ich lege meine andere Hand daran und mein Körper wird von einem reißenden Energiestrom erfasst.
Bilder sausen durch meinen Kopf, zu schnell, um sie festhalten zu können. Nur Bruchstücke bleiben: Eugenias Amulett, das in den Händen meiner Mutter landet, schwarzer Sand, der über zerklüftete Berge fliegt, ein Baum von kahler Schönheit.
Plötzlich werde ich losgelassen und falle auf den Boden. Die Nacht ist wieder still, abgesehen vom unruhigen Klopfen meines Herzens.
Die Morgendämmerung hisst ihr rosarotes Signal. Sie kriecht schon über die Baumwipfel und bringt einen neuen Tag und ein neues Ich.
2. A KT M ITTAG
Man muss noch Chaos in sich haben,
um einen tanzenden Stern gebären zu können.
Friedrich Nietzsche
15. Kapitel
Endlich scheint der Frühling sein wankelmütiges Versprechen zu halten. England feiert dieses Ereignis landauf, landab mit einer Fülle von Jahrmärkten. Am Morgen nach meinem Besuch bei Pippa treiben uns Mrs Nightwing und Mademoiselle LeFarge zum Bahnhof und auf einen Zug. Ich brauche einige Zeit, um Felicitys schlechte Laune wegen letzter Nacht zu besänftigen, doch als ich ihr verspreche, dass wir heute Nacht ganz bestimmt ins Magische Reich gehen werden, ist alles vergeben. Und wenn mir Felicity erst mal verziehen hat, schließt Ann sich bald an.
In einer kleinen Stadt steigen wir aus. Bepackt mit unseren Picknickkörben machen wir uns – in der munteren Gesellschaft von Dörflern, Bauern, Dienstboten auf Urlaub, aufgeregten Kindern und Arbeit suchenden Männern – auf den Weg. Schließlich erreichen wir die große Wiese, auf der der Jahrmarkt stattfindet.
Die Buden erstrecken sich fast über eine halbe Meile. Jeder Stand bietet eine neue Verlockung – knusprige Brotlaibe, Milch mit einer dicken Schicht gestockter Sahne, reizende Damenmützen und Schuhe. Wir betrachten alles mit begehrlichen Augen und gönnen uns ein Häppchen scharfen Cheddar-Käse oder einen Blick in den Spiegel, wenn wir einen neuen Schal anprobieren. Alle haben ihre besten Sonntagskleider angezogen, in der Hoffnung auf ein nachmittägliches Tanzvergnügen. Sogar Mrs Nightwing gestattet sich das unterhaltsame Schauspiel eines Hahnenkampfes.
In einer Ecke stehen mehrere Männer, um sich als Hufschmiede oder Schafscherer zu verdingen. Sogar ein Schiffskapitän ist da, der junge Männer als Matrosen anheuert, indem er ihnen Essen und Trinken und das
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