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Kartiks Schicksal

Kartiks Schicksal

Titel: Kartiks Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Libba Bray
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wie immer. Ein paar Sekunden lang sind wir eins. Ihre Erinnerungen und ihre Empfindungen, die sich damit verbinden, werden zu meinen und ziehen so rasch vor meinen Augen vorbei wie die Landschaft vor den Fenstern eines Zuges. Die kleine Pip am Klavier, pflichtbewusst ihre Tonleitern übend. Pippa, den unsanften Bürstenstrichen ihrer Mutter ausgeliefert. Pippa in Spence, die sich Felicity zum Vorbild nimmt, um zu wissen, wann sie über einen Scherz lachen oder jemanden vorsätzlich schneiden soll. Ihr ganzes Leben lang hat sie getan, was von ihr verlangt wurde, ohne Fragen zu stellen. Ihre einzige Rebellion bestand darin, jene Handvoll Beeren zu essen, und das hat sie hierher in eine fremde, unberechenbare Welt verschlagen. Ich fühle ihre Freude, ihre Traurigkeit, ihre Furcht, ihren Stolz, ihre Sehnsucht. Fees Gesicht blitzt auf, in goldenes Licht getaucht. Ich fühle Pippas schmerzliche Liebe für unsere Freundin. Ein verzücktes Lächeln spielt um Pippas Mund. Sie verwandelt sich vor meinen Augen, gebadet in einen Schimmer weißen Lichts.
    »Ich erinnere mich … Oh, sie ist wundervoll, diese Zauberkraft!«
    Sie drückt ihre Augen fest zu und presst in wilder Entschlossenheit ihre Lippen zusammen. Langsam werden ihre Wangen rosig und ihre üppigen dunklen Locken kehren zurück. Ihr Lächeln hat seine frühere Strahlkraft wiedergewonnen. Nur ihre Augen wollen sich nicht verändern. Sie schwanken zwischen Veilchenblau und jenem beunruhigenden Bläulich-Weiß.
    »Wie sehe ich aus?«, fragt sie.
    »Wunderschön.«
    Pippa wirft ihre Arme um meinen Hals und zieht mich zu sich hinunter. Manchmal ist sie wie ein kleines Kind. Aber wahrscheinlich ist es das, was wir an ihr lieben.
    »Oh, Gemma. Du bist eine wahre Freundin. Danke«, murmelt sie in mein Haar. »Du liebe Zeit, ich muss etwas mit diesem Kleid machen!« Sie lacht. Dieselbe alte Pippa. Und dieses Mal bin ich froh darüber.
    »Hast du dir jemals vorgestellt, so wahnsinnig stark zu sein, Gemma? Ist es nicht wundervoll? Zu wissen, dass du alles tun kannst, was du dir wünschst.«
    »Mag sein«, sage ich abschwächend.
    »Es ist deine Bestimmung! Du bist für Großes geboren!«
    Eigentlich sollte mir diese Bemerkung die Schamröte ins Gesicht treiben. Und ich tue sie auch sogleich wieder als Unsinn ab. Aber in meinem Innersten hat sie etwas berührt. Langsam erkenne ich, dass ich mich als etwas Besonderes fühlen möchte. Dass ich in der Welt ein Zeichen setzen möchte. Und dass ich mich nicht dafür entschuldigen will.

14. Kapitel
    Pippa und ich trennen uns auf dem Klatschmohnfeld. »Bis bald, liebe Freundin. Und mach dir keine Sorgen – ich werde unser Geheimnis hüten. Ich werde sagen, dass meine Verwandlung ganz von selbst passiert ist. Ein Wunder.«
    »Ein Wunder«, wiederhole ich und versuche, meine bösen Ahnungen beiseitezuschieben. Ich kann Pippa nicht für immer beschenken.
    Sie winkt mir und schickt mir eine Kusshand, bevor sie in die Richtung des Niemandslands zurückläuft.
    »GEMMA …«
    »Wer spricht da?« Ich wirble herum, aber es ist niemand zu sehen.
    Ich höre es wieder, wie einen leisen, vom Wind hergetragenen Schrei. »Gemma …«
    Ich recke meinen Hals nach den Höhlen der Seufzer, wo der Tempel und der Brunnen der Ewigkeit liegen. Ich muss Gewissheit haben.
    Der Aufstieg auf den Gipfel des Berges ist länger, als ich ihn in Erinnerung habe. Staub heftet sich an meine Beine. Als ich durch den Regenbogen aus buntem Rauch tauche, wartet dort Ascha, die Unberührbare, auf mich, als wüsste sie, dass ich komme. Ein leichter Wind weht ihren dunkelroten Sari hoch und enthüllt ihre verkrüppelten, mit Blasen bedeckten Beine. Ich vermeide es, so gut ich kann, sie oder einen anderen der Unberührbaren – der Hadschin, wie sie auch genannt werden – anzustarren, aber es ist schwierig. Sie alle sind von Krankheit gezeichnet. Deshalb wurden sie innerhalb des Magischen Reichs ausgestoßen und gelten noch weniger als Sklaven.
    Ascha begrüßt mich, wie sie es immer tut: mit einer kleinen Verbeugung, die Hände wie im Gebet aneinandergelegt. »Willkommen, Lady Hope.«
    Ich erwidere die Geste und werde in die Höhle geführt. Zwei der Hadschin tragen Sträuße leuchtend roter Mohnblumen, die sie unten auf der Wiese gepflückt haben. Sie lesen sie aus und nehmen nur die guten, die sie in großen Waagschalen wiegen, bevor sie damit die Räuchertöpfe füttern. Als ich vorbeigehe, heißen mich die Unberührbaren freundlich willkommen, reichen mir Blumen und

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