Kasey Michaels
ausgesetzt
war.
Erneut
betrachtete sie ihn. Das waren nicht Rafes Augen. Die Farbe stimmte, ein warmes
Braun, wie alter Sherry, aber sie blickten hart, nicht mehr lachend wie die des
Jünglings. Diese Augen hatten zu viel gesehen.
Sie
unterdrückte ein leichtes Frösteln, das sie teils aus einer Art Nervosität,
teils aus Neugier überkommen wollte. Warum war ihr nie in den Sinn gekommen,
dass er sich verändert haben könnte? Immerhin war er Ashurst Hall sechs Jahre
ferngeblieben.
„Rafe?“
Immer noch
drückte er das Taschentuch auf die Verletzung. „Verzeihung?“, fragte er
und sah ihr endlich voll ins Gesicht. Sah sie da Interesse in seinem Blick?
„Sie sind mir leider voraus, Madam.“
„Wenn, dann
wäre es zum ersten Mal, Euer Gnaden“, ent gegnete
Charlotte und machte einen kleinen ironischen Knicks, konnte allerdings nicht
ihre Zunge in Zaum halten. „Vielleicht hätte ich Sie schon vor sechs Jahren aus
dem Sattel heben sollen, etwa, als Sie und Ihre Cousins sich nichts dabei
dachten, in meiner Gegenwart die Reize des neuen Schankmädchens unten im Dorf
zu diskutieren.“
„Noch
einmal, Madam, ich glaube, ich ...“ Rafe kniff die Augen zusammen und
schaute genauer hin. „Charlie? Mein Gott, du bist es wirklich! Und immer
noch der alles vernichtende Wirbelsturm! Ich hätte es gleich merken müssen!
Vielleicht hättest du mir wieder einen Apfel an den Kopf werfen sollen, dann
hätte ich mich sofort erinnert. Du warst schon immer eine Gefahr für die
Menschheit.“
Charlotte
unterdrückte den Wunsch, sich auf die Zehenspitzen zu erheben und ihm eine
Backpfeife zu geben. „Wohingegen Sie, Euer Gnaden, schon immer ein gefühlloses
Ungeheuer waren. Und Charlotte, bitte, nicht Charlie. Ich hasse Charlie.“
„Tatsächlich?“
Sein ungekünsteltes Lächeln löste ein kleines Flattern in ihrem Magen aus. Es
war immer noch sein altes Lächeln, wenn auch nicht der alte Rafe. „Ich mag's eigentlich.
Charlie ... Warum sollte ein vernünftiger Mensch Charlotte genannt werden
wollen?“
Stumm
gestand sie sich ein, dass da etwa dran war. Sie hasste ihren Namen, gegeben
nach einer Großtante, die dem Täufling dafür eine kleine Mitgift hinterlassen
hatte. Trotzdem ...
„Alle
nennen mich Charlotte“, erklärte sie kurz und bündig. „Aber Sie dürfen
Miss Seavers sagen.“
„Den Teufel
werd ich!“ Er betrachtete das Taschentuch und stopfte es, offensichtlich
beruhigt von dem, was er sah, zurück in seine Tasche. Dann musterte er sie
erneut. „Hübsch genug bist du ja geworden, was? Aber vermutlich hast du alle
Männer vertrieben. Mir jedenfalls hast du immer Angst gemacht. Du musst jetzt
wie alt sein – zweiundzwanzig?“
„Nicht
ganz, Euer Gnaden.“
„Dann
beinahe eben“, sagte Rafe, nahm ihr die Zügel ab und wandte
sich Ashurst Hall zu. Er überließ es Charlotte, ihm zu folgen oder wie ein
armseliger Sünder an der Auffahrt stehen zu bleiben. „Ich denke mir, dass du
demnächst eine Haube aufsetzen und zur keifenden alten Jungfer werden wirst,
weil du keinen mehr abkriegst.“
Charlotte
senkte den Blick, sah seinen schicken Hut da unten liegen und hob unauffällig
ihre Röcke ein wenig. Mit einem Tritt ihres von einem zierlichen Halbstiefelchen
umhüllten Fußes ließ sie das kostspielige Stück ins Gebüsch segeln. „Aber
nein, Euer Gnaden“, hauchte sie mit süßer Stimme, „ich habe nur auf Ihre
Rückkehr gewartet, damit wir heiraten können, denn ich habe Sie stets von ferne
angebetet. War das nicht offensichtlich?“
Ah! Nun
besaß sie seine ganze Aufmerksamkeit. Und dafür hatte sie nur die Wahrheit
sagen müssen, so beschämend es war. Doch die würde er sowieso nie glauben.
„Puh, damit
hast du mich bis ins Mark getroffen! Du warst schon
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