Kasey Michaels
Tanner
wüsste nicht, woran er gerade war. Vielleicht hatte Lydia sich von ihrer so
lebhaften Schwester unterdrückt gefühlt und kam sich nun wie befreit vor?
Nein,
unmöglich, Lydia und Nicole waren mehr als Schwestern; sie waren sehr gute
Freundinnen. Und trotzdem, er konnte verstehen, dass eine im Grunde schüchterne
Person wie Lydia ihrer Schwester die Bühne überließ und lieber aus den Kulissen
zuschaute.
Er hatte
geglaubt – ja, er gestand es sich ein –, dass Lydia, wenn Nicole nicht mehr da
war, seine Gesellschaft schätzen werde, und dass ihre Freundschaft, die sich
auf einem tragischen Unglück gründete, zu mehr werden würde.
Er hatte
sogar zugeschaut, wie sie von anderen Männern umschmeichelt wurde, überzeugt,
dass er ihr Herz gewinnen würde, wenn die Zeit reif war, wenn sie sich ihrer
Wahl sicher sein konnte. Besonders heute, da Lydia endlich bereit zu sein
schien, aus dem Schatten ihrer Schwester zu treten und sich dem Leben alleine
zu stellen.
Zu welch
teuflischem Zeitpunkt war Justin aufgetaucht, mit seinem frechen Lächeln,
seinem noch frecheren Witz und seiner romantischen Vergangenheit?
„Tanner? War
die Frage so schwer?“
„Was?
Oh!“ Tanner fuhr aus seinen sehr privaten Gedanken auf. „Entschuldige, ich
kämpfte gerade mit mir, ob ich überhaupt mit jemandem über Lydia sprechen
sollte. Aber du bist ja nicht irgendjemand.“
„Nein, ich
bin eine ganz einzigartige Person“, sagte Justin mit seinem
charakteristischen gewinnenden Lächeln. „Bist du drauf und dran, mir etwas zu
beichten?“
„Wohl
kaum.“ Tanner entschied sich für eine offene Antwort, wenn auch mit
Bauchschmerzen. „Nein, Justin, Lady Lydia und ich sind Freunde, mehr
nicht.“
„Nun hast
du mich enttäuscht, und das, nachdem ich dir mein Seelenleben offenbart
habe.“
Tanner warf
einen Blick in den Ballsaal, wo er Lydia mit einem recht ansehnlichen jungen
Mann tanzen sah, den er aber nicht kannte. Sie sprach mit ihm, lächelte
freundlich, wie zuvor bei Justin. Ganz eindeutig eine erblühte Blume, ein
Schmetterling, der aus seinem Kokon geschlüpft war und zum ersten Mal die
schimmernden Flügel zum Flug ausbreitete.
„Sie wirkt
sehr glücklich, nicht wahr?“
Auch Justin
wandte sich dem Saal zu. „Und das ist ungewöhnlich? Tanner, ich sagte dir
schon, dass ich Geheimnistuerei verabscheue. Schlimmer noch, ich fühle mich nun
nachgerade verpflichtet, dich so lange zu quälen, bis du mir alles sagst.“
„Das fürchtete
ich. Und ich gebe zu, ich bin ein lausiger Schwindler. Also gut. Lydia war
verlobt mit einem guten Freund von mir. Captain Swain Fitzgerald. Fiel bei
Waterloo“, erklärte Tanner, sich wieder dem Garten zuwendend.
„Verdammt!“
Auch Justin drehte dem Ballsaal den Rücken zu und stützte die Unterarme auf die
Einfassung. „Teuflisch kompliziert, das, in die Schuhe eines Toten zu
schlüpfen.“
Tanner
verzog die Lippen. „Ganz so hätte ich es nicht ausgedrückt, aber ja, so ist
es. Ich war bei ihm, als er starb, und versprach ihm, mich um Lydia zu kümmern.
Und ich brachte ihr auch die Nachricht von seinem Tod, übergab ihr seine persönliche
Habe, darin, wie sich herausstellte, sein letzter Brief an sie.“ Er trank
sein Glas leer und stellte es sehr behutsam auf die Balustrade. „Und sie hat
mich dafür gehasst!“
„Leider
eine nur natürliche Reaktion.“
„Justin,
ich hatte noch nie solchen Kummer gesehen! Lydia ist eine Frau mit starken
Gefühlen, die sie allerdings unter ihrem ruhigen, ziemlich scheuen Wesen
verbirgt. Ich habe mich seitdem oft gefragt, ob ich je einer Frau so intensive
Emotionen wert wäre.“
„Wie, hast
du vor, dahinzuscheiden? Ah, lass nur. Ich verstehe, was du meinst. Du fragst
dich, ob du je so geliebt werden wirst. Das fragen wir uns alle,
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