Kastell der Wölfe
Ihnen oder bei Ihnen?«
Dr. Wilson hob die Schultern an. »Das ist wirklich schwer zu sagen. Getan haben sie mir nichts.«
»Das kann ich mir denken. Sonst säßen sie nicht hier.«
»Nun ja, ich... ich...« Der Mann quälte sich wirklich. »Ich weiß nicht, ob Sie das alles verstehen werden. Es ist wirklich so, dass man es nicht mehr mit normalen Maßstäben messen kann. Sie sind zwar Polizisten, aber hier, so habe ich zumindest den Eindruck, ist einiges von der Realität weit entfernt.«
»Versuchen Sie es trotzdem«, forderte Bill Conolly ihn freundlich auf.
Dr. Wilson blickte die Hausherrin an. Mrs. May sah auf ihren Sessel, als steckte sie in der Klemme. Aus ihrem Gesicht konnten wir nichts ablesen. Ein Teil der Farbe war daraus verschwunden. Sie bewegte nervös die Hände, und so erfuhren wir schon jetzt, dass sie ebenfalls informiert war.
»Sag es doch!«, platzte es aus ihr hervor. »Bitte, Tony, es hat doch keinen Sinn, wenn wir mauern.«
»Aber das ist zu ungeheuerlich.«
»Sag es trotzdem, sonst muss ich...«
»Schon gut. Du hast mich überzeugt«, behauptete Dr. Wilson, doch er schien es nicht zu sein, denn er schüttelte den Kopf. Dann blickte er uns in die Gesichter. »Was ich ihnen jetzt sage, das entspricht ebenso der Wahrheit wie das Entdecken der Wölfe, von dem Sie uns berichtet haben.«
»Gut, wir hören.«
Er nahm noch etwas vorweg. »In diesem Fall spielt auch Archie May, der zehnjährige Sohn dieser Familie eine sehr wichtige Rolle. Man kann sagen, dass er das auslösende Moment gewesen ist...«
Dr. Wilson kam zur Sache. Was wir in den nächsten Minuten aus seinem Mund erfuhren, war in der Tat eine haarsträubende Geschichte, die uns tatsächlich noch erröten ließ.
Wir waren nun keine Laien, was gewisse Vorfälle anging, die im übersinnlichen Bereich angesiedelt waren, aber so etwas zu hören, das hätten wir nicht erwartet. Dass sich Werwölfe hier tummelten, das konnten wir zunächst mal vergessen.
»Was soll man dazu sagen?«, fragte Bill, als der Arzt nach seinem Glas griff und einen langen Zug trank, weil er vom Reden eine trockene Kehle bekommen hatte.
»Es ist die Wahrheit, Mr. Conolly.«
»Das glaube ich Ihnen.«
Meine Gedanken drehten sich um den fremden Jungen, den der Arzt betäubt mit in seine Praxis genommen hatte. Ich wollte mehr über ihn wissen, doch Dr. Wilson war nicht in der Lage, mir Auskunft zu geben. Er konnte nur die Schultern anheben und immer wieder betonen, dass er noch nicht dazu gekommen war, das fremde Kind zu untersuchen. Allerdings erfuhren wir, dass es nicht in der Lage war, normal auf seinen Beinen zu gehen wie jeder Mensch. Es bewegte sich auf Händen und Füßen.
»Wie ein Tier, Mr. Sinclair.«
»Und welche Erklärung haben Sie?«
»Das will ich Ihnen sagen!«, flüsterte er mit scharfer Stimme. »Ich bin Arzt, und ich gehe nach dem, was ich gesehen habe, davon aus, dass er nicht bei seinen leiblichen Eltern groß geworden ist, sondern ganz woanders. Unter Tieren.«
»Sagen wir: unter Wölfen...«
»Ja. Unter Wölfen, die sich hier in dieser Gegend einquartiert haben, was eigentlich unmöglich ist.« Er breitete die Arme aus. »Ich kann jetzt nichts anderes mehr sagen, nachdem, was bei mir passiert ist. Es gibt Wölfe in der Gegend, und Sie haben sie ebenfalls gesehen. Drei Augenzeugen können sich nicht irren.«
»Vier«, verbesserte ich. »Sie müssen den Schäfer noch hinzu addieren.
»Klar, das auch.«
»Dass ein Kind von Wölfen großgezogen wurde, gab es schon mal«, sagte Bill. »Der Fall ist in Deutschland passiert und liegt schon recht lange zurück...«
»Kaspar Hauser«, sagte Wilson.
»Genau an den habe ich gedacht.« Mein Freund hob die Schultern. »Wie ich weiß, ist er in einem Wald gefunden worden. Er lebte nicht lange, weil er mit den Menschen und deren Welt nicht zurechtgekommen ist.«
»Er hat bei den Tieren und in der Natur gelebt, nicht wahr?«, fragte Esther May.
»Davon ging man damals aus.«
»Wie dieser Junge, der unseren Sohn besuchen wollte. Er kam ja nicht nur einmal. Er war öfter hier. Archie hat uns von ihm berichtet, nur haben wir ihm nicht geglaubt. Das ist wohl ein Fehler gewesen. Bis es dann passierte.«
»Wie sah denn der fremde Junge aus?«, fragte Bill Conolly.« Er deutete auf den Tierarzt. »Sie haben ihn ja am besten gesehen.«
»Das habe ich auch, und ich kann Ihnen sagen, dass er so aussah wie ich mir diesen Kaspar Hauser vorgestellt habe, nachdem ich seine Geschichte hörte. Ein
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