Kater mit Karma
hoch. Mit einem Lächeln nahm Lydia ihn auf den Arm.
»Na, Kleiner!«, sagte sie und küsste ihn auf die Stirn. »Zuerst mal müssen wir dich an das Leben in der freien Wildbahn gewöhnen.«
Wie Lydia hegte auch Jonah eine entschiedene Abneigung dagegen, im Haus eingesperrt zu werden. Er wartete vor Türen und Fenstern, um hinauszuschlüpfen, sobald sie geöffnet wurden. Und die Gewohnheit von Katzen, nicht zu kommen, wenn sie gerufen werden, trieb er ins Extrem. Wann immer er seinen Namen hörte, rannte er in die entgegengesetzte Richtung davon.
Selbst das Wort »Kätzchen« hatte diesen Effekt. Er drehte sich um, funkelte einen an, streckte den Schwanz in die Höhe und war weg. An manchen Tagen sah ich von Jonah nichts als die Rückansicht seiner übergroßen Hinterbeine und den Schwanz, der über die flache Rosette wischte, wenn er davongaloppierte.
Vielleicht verstand Lydia sein Bedürfnis herumzustreifen so gut, weil es bei ihr ähnlich war. Während sie zu Hause lebte und (zumindest finanziell) noch auf längere Zeit an uns gekettet war, sehnte sie sich nach Freiheit. Das konnte ich ihr kaum zum Vorwurf machen. In ihrem Alter war ich verheiratet gewesen und hatte zwei Kinder gehabt. Das war zwar eine andere Art des Eingesperrtseins, aber es gab mir wenigstens die Illusion, unabhängig zu sein. Vielleicht betrachtete sie das Kloster in Sri Lanka als eine Art Fluchtweg.
Laut dem Tierarzt bestand der erste Schritt zu Jonahs Unabhängigkeit darin, ihn kastrieren zu lassen.
Ich hätte nie gedacht, dass Philip diese Angelegenheit so persönlich nehmen würde.
»Wie kann es das Leben eines Tiers verlängern, wenn man ihm die Hoden entfernt?«, grummelte er.
Angeblich sind Männer ja das logischer denkende Geschlecht, aber sobald es um ihre Eier geht, ist es mit der Logik vorbei.
Ich versicherte Philip, dass die Kastration das Infekt- und Krebsrisiko senken würde und dass der seines Sexualtriebs beraubte Kater nicht so oft in Kämpfe verwickelt sein und damit weniger Verletzungen davontragen würde. Außerdem nahm es ihm die Lust, herumzuziehen und überall Duftmarken zu setzen (auch wenn das wohl vor allem Wildkatzen taten, wie ich – damals noch – dachte).
Wenn man es so betrachtete, war zu überlegen, ob der Tierarzt vielleicht bereit wäre, uns einen Nimm-zwei-zahl-eins-Sonderpreis zu geben.
»Tut es denn nicht einfach eine Vasektomie?«
»Die Kastration dauert nur fünf Minuten. Für Weibchen ist die Operation viel schlimmer«, sagte ich und fragte mich, warum das eigentlich bei allen Spezies so sein musste.
Am Tag von Jonahs Kastration musste Philip früh raus. Katharine hatte einen Termin bei ihrem Mathelehrer (»Und es macht mich nervös, wenn er in seiner Transportbox miaut«), was Lydia und mir die Rolle der Vollstreckerinnen übertrug.
Als wir Jonah am späteren Nachmittag aus der Tierarztpraxis abholten, schien ihm buchstäblich nichts zu fehlen. Seine Hoden waren offenbar nicht entfernt, sondern nur geplättet worden.
»Achten Sie darauf, dass er nicht zu viel an den Stichen herumleckt«, sagte die Tierarzthelferin, als sich eine niedliche Pfote aus der Transportbox streckte und nach meinem Gürtel angelte. »Meine Güte, der hat wirklich Persönlichkeit, was?«
Jonah erholte sich rasch von der Operation. Zu Philips großer Erleichterung war er fast der Alte geblieben. Es genügt wohl zu sagen, dass die Hoden zwar eingeebnet worden waren, der Eiffelturm jedoch weiterhin stand. Gerne schockierte Jonah unsere weiblichen Gäste damit, dass er das rosa Prachtstück aus seinem Versteck holte und es mit Hingabe und großer Detailverliebtheit leckte.
Jedes »Iiih! Jonah! Das ist ekelhaft!«, brachte ihn nur dazu, noch inbrünstiger zu lecken.
Nachdem wir zu der Überzeugung gelangt waren, dass Jonah ganz wiederhergestellt war, beschlossen wir, ihn im Garten hinter dem Haus sein Debüt als Freigänger geben zu lassen.
Ich war ziemlich ruhig, obwohl ich noch nicht wieder imstande war, hinter ihm herzujagen. Wenn er erst einmal den Ruf seines Namens mit dem Klappern eines Löffels gegen eine Dose Thunfisch assoziierte, würde er schon folgen.
Philip setzte Jonah auf die Terrasse. Unser Kätzchen saß unschuldig da und blinzelte neugierig in den Himmel.
»Na, siehst du!«, sagte ich. »Überhaupt kein Problem. Bist ein kluges Kerlchen, was, Fellbruder?«
Ein Windstoß fuhr durch die Olivenbüsche. Jonah hob die Nase. Er spannte die Beinmuskeln an und reckte den Schwanz in die Höhe. Das
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