Kater mit Karma
Boden.
»Rotbraun«, sagte sie und warf mir einen trotzigen Blick zu.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Rotbraun war die Farbe der Klosterkleidung.
»Nachts kann es im Kloster ziemlich kalt werden«, fügte Lydia hinzu.
Ich legte das Geschirrtuch neben die Spüle. »Meine Tochter die Ärztin« klang so völlig anders als »meine Tochter die Nonne«.
Dennoch, ich würde mich wohl oder übel mit dem Gedanken anfreunden müssen, dass Lydia wahrscheinlich in nicht allzu langer Zeit in das Kloster in Sri Lanka zurückkehrte. Meine Krankheit hatte uns einander so nahe wie noch nie gebracht. Ich würde sie sehr vermissen. Aber sie hatte sich mir gegenüber so selbstlos verhalten, dass es an der Zeit war, ihre Entscheidung zu akzeptieren und zu respektieren, wie wichtig ihre Spiritualität für sie war. Sie hatte nie versprochen, auf Dauer zu bleiben. Außerdem kam ich inzwischen wieder ganz gut zurecht, auch wenn ich noch längst nicht wieder die Alte war.
Ich hatte sogar schon ein paarmal den Mut aufgebracht, mich nackt vor den Spiegel zu stellen. Vor mir sah ich zwar Umrisse meines gewohnten Körpers, aber ich fühlte mich merkwürdig fremd in ihm. Ich sehnte mich nach dem unvollkommenen, wundervollen Zellkonglomerat, das mich mehr als fünf Jahrzehnte durch die Welt getragen hatte. Jetzt zierten ihn die Narben eines Feldzugs.
Die Narbe quer über meinen Bauch war immer noch feuerrot und sah schlimm aus. Nach wie vor war die Schwellung da. Von der Seite sahen meine gelifteten neuen Brüste jugendlich aus, aber die künstliche hing ein wenig tiefer als die andere. Greg hatte die Nähte wie versprochen weitgehend unter den Brüsten oder an den Seiten verborgen, aber die eine verbliebene Brustwarze war von roten Stichen umkränzt. Dort, wo an meiner falschen Brust die Brustwarze sein sollte, starrte mich wie ein riesiges Auge ein Kreis blasser Haut an.
Die meiste Zeit versteckte ich diesen fremden neuen Körper vor der Welt und zog mir die Decke bis ans Kinn, wenn Philip mir morgens eine Tasse Tee ins Schlafzimmer brachte. Er war außerordentlich taktvoll und versicherte mir, ich sehe besser aus als zuvor. Da ich aber nun mal nichts weniger als einem Playmate des Monats glich, fragte ich mich, was er wirklich dachte. Tief innen drin wollte ich die Antwort gar nicht wissen – für den Fall, dass sie vernichtend ausfiel.
Manchmal wurde ich von einer schier unbezwingbaren Müdigkeit überfallen. Dann legte ich mich ins Bett und schlief ohne Ende. Durch den Tag zu kommen war schon anstrengend genug, da musste ich mir nicht noch Gedanken um die Zukunft machen. Jeder Moment kam mir wertvoll vor. Wie viel Zeit verbrachte ich damit, die Staubpartikel in einem Lichtstrahl zu betrachten oder das Bild einer Mohnblume an der Wand gegenüber unserem Bett. Eingehüllt in den roten Blütenschimmer genoss ich das Wunder, zu leben und zu atmen.
Im Vergleich zu den massiven körperlichen Veränderungen war die Entscheidung, nach dreißig Jahren meine Kolumnen aufzugeben, geradezu ein Klacks. Ohne den montagmorgendlichen Abgabetermin fühlte ich mich wunderbar befreit. Ich vermisste zwar den Kontakt mit meinen Lesern, aber viele schrieben mir weiterhin. Sie hatten mir massenhaft E-Mails ins Krankenhaus geschickt. Einige schrieben, nach all den Jahren, in denen sie meine Kolumne gelesen hatten, sei ich wie eine Freundin für sie. Zwei luden mich sogar ein, mich bei ihnen zu Hause zu erholen. Die Großzügigkeit dieser sogenannten Fremden berührte mich tief.
Ich erhielt auch Post von Frauen, die ihren Brustkrebs besiegt hatten. Die meisten machten mir Mut, nur ein paar verrieten Angst. Sie stammten von Frauen, die erst kürzlich die Diagnose erhalten hatten und plötzlich vor einer ungewissen Zukunft standen. Eine hatte Sorge, dass sie ihre kleinen Kinder würde zurücklassen müssen. Ich hoffte, in meinen Antworten an diese verängstigten Frauen den richtigen Ton zu treffen. Sie gemahnten mich schmerzhaft daran, nichts als selbstverständlich zu nehmen.
Vielleicht war in Lydias Bitte um einen braunen Schal mehr Weisheit, als mir bewusst war. Stricken war womöglich die ideale Beschäftigung, um mich zu entspannen, wieder zu Kräften zu kommen und nachzudenken.
Aber ich hatte eben die Hoffnung gehegt, dass irgendetwas sie veranlassen würde, ihre Pläne aufzugeben. Vielleicht sogar das Kätzchen …
»Wann brichst du wieder auf?«, fragte ich mit gespielter Gelassenheit.
Jonah tänzelte über den Küchenboden und maunzte zu ihr
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