Kathedrale
war für ihn zu einer nahezu fehlerfreien, fast autonomen Körperfunktion geworden. Wie Atmen.
Doch nun musste er zurück. Es ging nicht mehr anders. Er wandte sich nach rechts und sah die Treppe, die er mit zehn Jahren errichtet hatte – in dem Alter, in dem er begonnen hatte, auch medizinische Informationen in seiner Geisteskathedrale abzulegen. Jede Stufe knarrte unter seinen Schritten. Er wusste noch, dass er diese Details bewusst eingebaut hatte, als Test für seine mentalen Fähigkeiten. Lächelnd setzte er seinen Aufstieg fort. In wenigen Momenten würde er wissen, wie er Dax’ Leben retten konnte.
An der Spitze der Treppe befand sich eine schwere Eichentür. Bashir drückte dagegen, aber sie war von innen verschlossen.
Er stutzte. Sie sollte nicht verschlossen sein.
Mit beiden Fäusten schlug er gegen das Holz – und die Tür verschwand! Bashir stolperte und fiel kopfüber in einen großen, gewundenen Raum. Vom Boden bis zur Decke erstreckten sich überall massiv aussehende hölzerne Bücherregale, und warmes Sonnenlicht fiel durch die mit dünnen Vorhängen versehenen Fenster.
Eine dunkelhaarige Frau trat hinter einem der näher gelegenen Regale hervor und auf ihn zu. Sie war ein Mensch, dem Anschein nach Mitte dreißig. Lächelnd streckte sie die Hand aus und half Bashir auf die Beine.
Es dauerte einen Moment, bis er sie wiedererkannte. »Dr. Lense?« Die Frau hatte ihn darum gebracht, Abschlussredner seines Jahrgangs an der Akademie sein zu dürfen. Ihr nun wieder zu begegnen – hier in seiner ganz privaten Erinnerungskathedrale –, verwirrte und beunruhigte ihn gleichermaßen.
Elizabeth Lense lächelte. »Keine Sorge, Julian. Es ist nur natürlich, dass Sie meine Anwesenheit irritiert.«
»Sie sind also telepathisch begabt. Kein Wunder, dass Sie mich an der Akademie überflügeln konnten.«
Ihr Lachen war so angenehm wie eine warme Dusche. »Ich war besser als Sie, weil auch das beste Gedächtnis mitunter Fehler macht. Außerdem muss ich Ihre Gedanken nicht lesen, Doktor. Ich bin ein Produkt von ihnen.«
Sofort kam er sich töricht vor. »Natürlich. Und warum hat mein Verstand gerade diesen Moment ausgewählt, um Sie, äh, heraufzubeschwören?«
»Mich heraufzubeschwören? Julian, ich bin auch kein Geist. Ich schätze, Sie denken an mich, weil ich Sie an irgendetwas erinnere.«
Selbstverständlich. Ich weiß es wieder. Sie dient mittlerweile auf der U.S.S. da Vinci . Einem Schiff, das nach dem Mann benannt ist, der mich hierzu inspirierte.
Ihr Lächeln wurde beunruhigend breit. »Eines ist gewiss, Julian. Sie werden nie wieder eine präganglionische Faser mit einem postganglionischen Nerv verwechseln.«
Die einzige Examensfrage, die er falsch beantwortet hatte. Dieser Fehler hatte ihn um das Privileg gebracht, die Abschlussrede halten zu dürfen. Leonardo hin oder her – sein damaliges Versagen war auf ewig in seinem Gedächtnis gespeichert.
Bashir zwang seine Gedanken zurück zum eigentlichen Problem. Dax lag im Sterben. Ein Heilmittel existierte, und wenn der Symbiont es nicht binnen der nächsten ein bis zwei Minuten erhielt, wären neun Leben vernichtet.
Und warum? , fragte Bashir sich wütend. Weil ich mich verwirren und ablenken ließ.
Er schob sich an Lense vorbei und trat auf ein drei Meter hohes Regal aus dunklem Tropenholz zu.
Verwirrt bemerkte er, dass die Bücher in völliger Unordnung waren. Es schien, als hätte sie jemand nahezu stapelweise herausgenommen, durchgeblättert und völlig planlos zurückgestellt. Manche standen weitab von ihrem eigentlichen Platz, andere wirkten abgewetzt und zeigten deutliche Gebrauchsspuren.
Julian zuckte zusammen, als plötzlich Lenses Hand auf seiner Schulter lag. »Bitte erklären Sie mir etwas«, sagte seine Studienkollegin von einst. »Warum sind Sie den ganzen Weg bis hierher gekommen, nur um nachzuschlagen, dass zehn ml Endomethalamin zwanzig ml Isoboramin bei Trill-Symbionten aufheben?«
Endomethalamin! Als er das Wort hörte, fiel es ihm wieder ein. Natürlich!
»Doktor!« Das war Krisstens Stimme.
Die Gedankenkathedrale verwehte wie Rauch, und Bashir fand sich in der Krankenstation wieder. Dort, wo nach wie vor Ezri vor ihm lag, die kaum noch atmete. Krissten und Juarez starrten ihn an, die Gesichter voller Sorge. Und nun spürte er auch wieder den sich windenden Symbionten in seinen Händen.
»Doktor, geht es Ihnen gut?«, fragte Krissten. So besorgt hatte sie nicht mehr geklungen, seit die Jem’Hadar die Station
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