Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
Zaren. Alles, was sein Vater an ihm auszusetzen hatte - die Schweigsamkeit, das Geheimnisvolle, das Undurchdringliche in seinen blaugrauen Augen -, weckte die starke Neigung zum Mystizismus in ihren slawischen Seelen.
Alexander ließ sein Pferd satteln, saß auf und ritt davon. Die Diener und Stallknechte sahen ihm nach. Sie wußten, die Zeit war reif. Auf ihn warteten sie, denn seit Peter dem Großen war er ihnen verheißen worden. Der stille, geheimnisvolle Alexander war auserwählt, er verkörperte die russische Seele für sie.
Alexander ritt über die Newa und vorbei an den Markten der Stadt. Er ließ den großen weißen Schimmel aber erst galoppieren, als das offene Weideland hinter ihm lag und er über die nassen herbstlichen Felder ritt.
Er ritt viele Stunden durch den Wald, als habe er kein Ziel. Schließlich erreichte er ein stilles Tal in diesem menschenleeren Wald. Hinter einem Gewirr schwarzer Zweige und goldgelber Blüten stand verborgen eine alte niedrige Hütte. Alexander saß ab und führte das dampfende Pferd am Zügel.
Er lief leise über die weichen, modrig duftenden Blätter auf dem Waldboden. Die schlanke, sportliche Gestalt, die schwarze Uniformjacke mit dem Stehkragen, die enganliegende weiße Reithose und die schwarzglänzenden Stiefel erweckten den Eindruck, er sei ein einfacher Soldat, der durch den Wald wanderte. Von den Zweigen der Bäume fielen Tropfen herab. Er wischte sie von den goldenen Epauletten und zog den Degen. Er berührte die Klinge, als prüfe er ihre Schärfe. Er warf einen kurzen Blick auf die Hütte, in deren Nähe zwei Pferde grasten.
Alexander sah sich prüfend um. Ein Kuckuck rief dreimal - dann war alles wieder still. Nur die Wassertropfen fielen von den Zweigen. Er ließ die Zügel seines Pferdes los und ging auf die Hütte zu.
Er stieß gegen die Tür, die sich knarrend öffnete. Im Inneren war alles dunkel. Seine Augen mußten sich erst langsam anpassen, aber er roch den Talg einer gerade erst gelöschten Kerze. Er glaubte, eine Bewegung zu hören, und sein Herz klopfte schneller.
„Sind Sie da?“ flüsterte Alexander in die Dunkelheit. Dann sah er Funken - Stroh flammte auf, eine Kerze wurde entzündet. In ihrem Glanz sah er das schöne ovale Gesicht, die schimmernden, dichten roten Haare, die funkelnden grünen Augen, die ihn fragend ansahen.
„Haben Sie Erfolg gehabt?“ fragte Mireille so leise, daß er es kaum hörte.
„Ja. Sie ist im Gefängnis Ropscha“, flüsterte Alexander zurück, obwohl weit und breit kein Mensch war, der sie hätte hören können. „Ich kann euch dort hinbringen. Aber ich habe noch mehr erfahren. Er hat eine der Figuren, wie Sie befürchtet haben.“
„Und die anderen?“ fragte Mireille ruhig. Ihre grünen Augen verwirrten ihn.
„Danach konnte ich nicht fragen, ohne sein Mißtrauen zu erregen. Es ist ein Wunder, daß er überhaupt soviel gesagt hat. Ach ja - hinter dem französischen Feldzug nach Ägypten scheint mehr zu stecken, als wir vermutet haben - vielleicht ist er nur eine Tarnung. General Buonaparte hat viele Wissenschaftler mitgenommen.“
„Wissenschaftler?“ fragte Mireille und beugte sich über den Tisch.
„Mathematiker, Physiker und Chemiker“, sagte Alexander.
Mireille warf einen Blick in die dunkle Ecke der Hütte. Die große, schlanke Gestalt eines Mannes mit einem Raubvogelgesicht trat ins Licht. An der Hand hielt er einen kleinen, etwa fünf jährigen Jungen, der Alexander freundlich anlächelte. Der Zarewitsch lächelte zurück.
„Hast du gehört?“ fragte Mireille Schahin. Er nickte stumm. „Napoleon ist in Ägypten, aber nicht auf mein Geheiß. Was will er dort? Wieviel weiß er? Ich möchte, daß er nach Frankreich zurückkehrt. Wann kannst du bei ihm sein, wenn du dich sofort auf den Weg machst?“
„Vielleicht ist er in Alexandria, vielleicht auch in Kairo“, antwortete Schahin. „Wenn ich die Route durch das türkische Reich nehme, kann ich ihn innerhalb von zwei Monden in beiden Städten erreichen. Ich muß aber Al-Kalim mitnehmen. Die Osmanen werden erkennen, daß er der Prophet ist, die Hohe Pforte wird mich passieren lassen und mich zu dem Sohn von Letizia Buonoparte führen.“
Alexander hörte dem Gespräch staunend zu. „Ihr sprecht von General Buonoparte, als würden Sie ihn kennen“, sagte er zu Mireille.
„Er ist Korse“, erwiderte sie knapp, „Sie sprechen sehr viel besser Französisch als er. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren „ ich möchte nach Ropscha, ehe es zu
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