Katrin Sandmann 04 - Blutsonne
hängt er neben der Wohnungstür.«
»Also doch der böse Bruder.«
»Klar.«
»Nicht ganz fair, ihn zu beschuldigen, wo er doch gar nicht da ist, um sich zu wehren. Wo steckt er denn? Lerne ich ihn auch mal kennen?«
»Schon möglich«, antwortete Marc ausweichend. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Er ist im Augenblick etwas menschenscheu. Hat ziemlich viel durchgemacht.«
Katrin horchte neugierig auf. Doch Marc ging nicht weiter ins Detail. Er drehte sein Sektglas zwischen Daumen und Zeigefinger. »Sollen wir loslegen?«
»Klar, an die Arbeit.« Katrin schnappte sich einen der Bildbände über Düsseldorf und fing an zu blättern, während Marc ihr seine Ideen erläuterte. Dabei schenkte er eifrig Sekt nach, von dem er allerdings selbst das meiste trank. Einmal reichte Marc ihr ein Buch, und als ihre Finger sich berührten, hatte sie das Gefühl, Marc zögere den Augenblick hinaus, lasse seine Fingerspitzen für den Bruchteil einer Sekunde länger auf den ihren liegen, als nötig gewesen wäre. Doch sie war sich nicht sicher. Sie beschloss, so zu tun, als habe sie nichts bemerkt. Vermutlich war ihre Wahrnehmung verzerrt, weil sie diesen Mann nicht durchschaute, weil sie nicht sicher war, was er eigentlich von ihr wollte. Der Sekt tat ein Übriges, ihr die Sinne zu vernebeln. Um diese Tageszeit stieg ihr der Alkohol sofort in den Kopf. Schließlich war es erst vier Uhr nachmittags. Außerdem war sie mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache. Immer, wenn sie glaubte, ganz konzentriert bei der Arbeit zu sein, schoss ihr ein Bild ins Bewusstsein, das sie einfach nicht abschütteln konnte: die zwei Schlingen an dem Ast im Rheinpark, der kahle Baum und dahinter der stille Fluss als einziger Zeuge eines grausigen Verbrechens. Sie hatte überlegt, ob sie Marc davon erzählen sollte, den Gedanken aber sofort verworfen. Irgendetwas hielt sie davon ab, zu viel Vertrautheit zwischen ihnen herzustellen. Vielleicht war es nur ihre bittere Erfahrung mit jenem anderen Mann, dem, der sie entführt hatte, vielleicht aber auch ihr Instinkt, der ihr sagte, dass sie diesem Menschen nicht ohne Weiteres vertrauen durfte.
Sie schnappte sich einen Band über Düsseldorfer Stadtgeschichte und blätterte planlos darin herum. Plötzlich stockte sie. Auf einer Seite war ihr ein Name ins Auge gesprungen. Hastig blätterte sie zurück. Es dauerte eine Weile, bis sie den Absatz wiedergefunden hatte. Golzheimer Insel. Das war es. Verdammt. Warum war ihr das nicht schon heute Morgen eingefallen? Sie musste unbedingt Halverstett anrufen.
*
Hauptkommissar Halverstett vergewisserte sich mit einem Blick auf das Namensschild, dass sie vor der richtigen Wohnungstür standen. Er zog die Dienstwaffe und bedeutete den beiden Kollegen, auf der Treppe zu warten, dann nickte er Rita Schmitt zu. Sie drückte auf die Klingel. Der schrille Ton war im ganzen Treppenhaus zu hören. Sie warteten. Nichts rührte sich.
Rita klingelte noch einmal. Wieder nichts.
Plötzlich rief jemand von drinnen: »Komm rein. Ist offen. Du weißt doch, dass das Schloss kaputt ist.«
Vorsichtig drückte Halverstett die Tür auf. Ein langer, dunkler Korridor lag vor ihnen. Lautlos schlüpften sie hinein. Von hinten ertönten Stimmen. Sekundenlang zögerte Halverstett und horchte konzentriert, dann grinste er erleichtert. Ein Fernseher. Sie schlichen weiter, bis sie die Schwelle der Wohnzimmertür erreichten. Es roch nach abgestandener Luft und Schweiß. Auf dem Sofa saß ein stark übergewichtiger Mann und starrte auf einen Bildschirm in der Ecke des Zimmers. Er trug eine gestreifte Schlafanzughose, ein weißes Unterhemd und Pantoffeln.
Rita Schmitt machte einen Schritt ins Zimmer. »Polizei. Stehen Sie mit erhobenen Händen auf!« Sie richtete die Pistole auf den Mann. Der fuhr herum und starrte die beiden Polizisten mit offenem Mund an. Die Fernbedienung glitt ihm aus der Hand und polterte auf den Boden. Der Dicke drehte seinen Kopf hin und her, sah kurz zum Fernseher, wo eine amerikanische Krimiserie lief, dann zurück zu dem Mann und der Frau, dann wieder zum Fernseher. Er öffnete den Mund. Schloss ihn wieder.
»Nun machen Sie schon«, rief Rita Schmitt ungeduldig. »Stehen Sie auf.«
Der Mann nickte mechanisch und hievte seinen übergewichtigen Leib aus dem Sofa. Er schnaufte kurzatmig. Als er die Arme hob, konnte man sehen, dass sich kleine feuchte Ringe unter seinen Achseln gebildet hatten.
Rita Schmitt trat zu ihm. »Herr Hofleitner , Sie sind
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