Kein böser Traum
starrte mit offenem Mund auf seine rechte Hand.
Der Mann löste seinen Griff. Und gleich neben ihm auf den Boden fiel Jack.
46
Grace war mit einem Satz bei ihm.
»Jack? Jack?«
Er hatte die Augen geschlossen. Sein Haar klebte an der Stirn. Trotz der Fesseln nahm sie sein Gesicht in beide Hände. Jacks Haut fühlte sich kalt und feucht an. Seine Lippen waren trocken und verkrustet. Seine Fußgelenke waren mit Isolierband zusammengebunden. An seinem rechten Handgelenk hing eine Handschelle. Sein linker Handknöchel war wund und blutverkrustet. Nach den Wunden zu urteilen, musste er auch an den Händen – und das längere Zeit – gefesselt gewesen sein.
Sie rief erneut seinen Namen. Keine Reaktion. Sie legte das Ohr an seinen Mund. Er atmete. Flach zwar, aber er atmete. Sie rutschte näher an seine Seite und bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Ihre Rippen protestierten, doch das spielte jetzt keine Rolle. Er lag flach auf dem Rücken, ihr Schoß sein Kissen. Ihre Gedanken wanderten zurück zu den Lauben in den Weinbergen von Saint-Emilion. Sie waren ungefähr drei Monate zusammengewesen und verliebt über beide Ohren, als sie Pastete, Käse und natürlich Wein eingepackt hatte. Der Tag war von der Sonne geküsst, der Himmel von einem nahezu unwirklichen Blau. Sie lagen auf einer Wolldecke, sein Kopf in ihrem Schoß – so wie jetzt. Sie hatte mehr Zeit damit verbracht, ihn anzusehen als die Wunder der Natur, die sie umgaben. Sie folgte mit ihren Fingern den Linien seines Gesichts.
Sie versuchte, ihrer Stimme einen sanften Klang zu geben, um ihre wahnsinnige Angst nicht zu zeigen.
»Jack?«
Seine Lider zuckten. Dann schlug er die Augen auf. Seine Pupillen erschienen ihr unnatürlich groß. Es dauerte einen Moment, bis er den Blick auf sie richtete und sie erkannte. Im ersten
Augenblick verzogen sich seine verkrusteten Lippen zu einem Lächeln. Grace fragte sich, ob auch er an dieses besondere Picknick in den Weinbergen zurückdachte. Es brach ihr das Herz, doch sie brachte ein Lächeln zustande. Die Heiterkeit währte nur wenige Sekunden, dann gewann die Wirklichkeit die Oberhand. Jacks Augen wurden noch größer. Diesmal vor Angst. Sein Lächeln verschwand. Sein Gesicht verzerrte sich. Vor Verzweiflung.
»Großer Gott!«
»Ist ja gut«, sagte sie hastig, obwohl ihr das unter den gegebenen Umständen selbst mehr als dämlich vorkam.
Er versuchte, die Tränen zurückzuhalten. »Es tut mir so Leid, Grace.«
»Pssst … Ist schon in Ordnung.«
Jacks Augen bewegten sich wie Suchscheinwerfer, bis sie den Entführer gefunden hatten. »Sie weiß nichts«, sagte er zu ihm. »Lassen Sie sie gehen.«
Der Mann trat einen Schritt näher. Er kauerte nieder. »Wenn Sie noch ein Wort sagen«, drohte er Jack, »tu ich ihr was an. Nicht Ihnen. Ihr. Und das nicht zu knapp. Kapiert?«
Jack schloss die Augen und nickte.
Ihr Peiniger erhob sich. Er beförderte Jack mit einem Fußtritt aus ihrem Schoß, packte Grace beim Haar und zerrte sie auf die Beine. Mit der anderen Hand packte er Jack im Nacken.
»Wir müssen noch mal los.«
47
Perlmutter und Duncan waren gerade vom Garden State Parkway zur Interstate 284 abgebogen, kaum fünf Meilen vom Haus in Armonk entfernt, als der Anruf über Funk kam:
»Sie waren hier – Lawsons Saab steht noch in der Auffahrt –, aber jetzt sind sie verschwunden.«
»Was ist mit Beatrice Smith?«
»Nirgends zu sehen. Bis jetzt nicht. Wir sind gerade erst angekommen. Wir suchen im Haus weiter.«
Perlmutter überlegte. »Wu muss geahnt haben, dass Charlaine Swain uns alarmiert hat. Deshalb ist er erst mal den Saab losgeworden. Wissen Sie, ob Beatrice Smith einen Wagen hat?«
»Noch nicht. Nein.«
»Kein anderes Auto in der Auffahrt oder der Garage?«
»Bleiben Sie dran.« Perlmutter wartete. Duncan sah ihn an. Zehn Minuten später: »Kein anderer Wagen.«
»Dann muss er ihr Auto genommen haben. Stellen Sie fest, welche Marke und welches Kennzeichen. Und geben Sie sofort eine Fahndung raus.«
»In Ordnung. Warten Sie! Sekunde noch, Captain.« Am anderen Ende war es wieder still.
»Ihre Computerexpertin«, sagte Scott Duncan unvermittelt. »Sie hält Wu für einen Serienmörder.«
»Sie hält es jedenfalls für eine Möglichkeit.«
»Aber Sie glauben nicht daran?«
Perlmutter schüttelte den Kopf. »Er ist ein Profi. Er pickt sich seine Opfer nicht zum Spaß raus. Sykes hat allein gelebt. Beatrice Smith ist Witwe. Wu wechselt ständig den Standort, um ungestört agieren
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