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Kein Entkommen

Kein Entkommen

Titel: Kein Entkommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linwood Barclay
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versöhnt.«
    »Vergiss es.« Sie schüttelte den Kopf. »Außerdem will ich nicht mehr darüber reden.«
    Ich hatte Jan sechs Jahre zuvor in einer Arbeitsvermittlungsagentur kennengelernt, als ich ein paar Arbeitslose für eine Story interviewt hatte. Über ihre Eltern hatte sie stets nur verlauten lassen, dass ihr Vater ein verdammter Mistkerl und ihre Mutter sowieso ständig nur betrunken sei.
    Jan war so gut wie nichts zu entlocken, aber im Lauf der Jahre erfuhr ich doch ein wenig mehr über ihre Eltern.
    »Immer haben sie mir die Schuld gegeben«, war Jan an einem Samstagabend vor zwei Jahren herausgeplatzt, als wir Ethan bei meinen Eltern untergebracht hatten. Wir hatten bereits drei Flaschen Wein intus – ein höchst seltener Umstand, da Jan normalerweise kaum Alkohol trank – und standen kurz davor, nach oben zu gehen und eine längst überfällige Nummer zu schieben, als Jan unvermittelt von ihrem früheren Leben zu sprechen begann.
    »Woran?«, fragte ich.
    »Meistens war er es«, erwiderte sie. »Immer war ich daran schuld, dass in seinem Leben nichts funktionierte.«
    »Wie? Allein durch deine Existenz?«
    Mit glasigen Augen sah sie mich an. »Ja, so ziemlich. Dad nannte mich immer Hindy.«
    »Hildy?«
    »Nein. Hindy.«
    »So wie die Sprache?«
    Sie schüttelte den Kopf, nahm noch einen Schluck Wein. »Nein, mit einem ›y‹ am Ende. Kurz für ›Hindenburg‹. Nicht weil ich dick wie ein Zeppelin gewesen wäre, sondern weil er mich als sein persönliches Desaster ansah.«
    »Das ist ja schrecklich.«
    »Ach was. Verglichen mit meinem zehnten Geburtstag war das pure Zuneigung.«
    Ich wartete.
    »Er hatte mir einen Ausflug nach New York versprochen. Um sich mit mir ein Musical am Broadway anzusehen. Davon hatte ich immer geträumt. Ich habe mir immer die Verleihung der Tonys angesehen, habe jeden Zeitungsausschnitt aus der New York Times ausgeschnitten, wenn sie etwas über Musicals brachten, und an den Anzeigen für die großen Shows konnte ich mich nicht sattsehen. Tja, jedenfalls sagte er, er hätte Karten für Grease . Dass wir mit dem Bus fahren und in einem Hotel wohnen würden. Ich konnte es nicht glauben, weil mein Vater mich sonst immer wie eine Aussätzige behandelt hatte. Aber dann dachte ich, alles würde vielleicht anders, wenn ich zehn geworden war.«
    Sie nahm noch einen Schluck Wein.
    »Dann kam der große Tag. Ich packte meine Sachen zusammen. Am wichtigsten waren das rote Kleid und die schwarzen Lackschuhe, die ich im Theater tragen wollte. Mein Vater machte allerdings keinerlei Anstalten. Ich meinte, er solle sich beeilen, aber er grinste nur und sagte: ›Wir fahren nicht. Es gibt kein Hotel, ebenso wenig wie die Eintrittskarten für Grease . Tja, Schätzchen, das ist ’ne Enttäuschung, was? Jetzt weißt du, wie sich so was anfühlt.‹«
    Ich war sprachlos. Jan lächelte. »Ich hatte eine echte Glückssträhne. Immerhin ist Grease der pure Horror, oder?«
    Ich rang nach Worten. »Und was hast du gemacht?«
    »Ich bin woanders hingegangen«, sagte sie leise.
    »Wohin? Zu Verwandten?«
    »Nein, nein, du verstehst es nicht.« Jan presste sich die Hand auf den Mund. »Ich glaube, ich muss mich übergeben.«
    Und das war’s. Am nächsten Morgen machte sie komplett dicht und blockte jeden meiner Versuche, mehr in Erfahrung bringen zu wollen, rigoros ab.
    Trotzdem erzählte sie mir im Lauf der Jahre, dass sie mit siebzehn von zu Hause weggegangen war und seitdem keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern hatte. Geschwister hatte sie nicht, so dass sie niemand über das Wohlergehen ihrer Eltern hätte informieren können.
    Für Jan waren sie beide tot. Und wenn nicht, so doch zumindest für sie gestorben.
    Nur dass ich nach meinem Telefonat mittlerweile wusste, dass sie noch am Leben waren.
    Ich hatte Jan nie von meinem Fund hinter der Bodenleiste erzählt. Irgendwie kam es mir so vor, als würde ich mich damit in ihre Privatangelegenheiten einmischen. Zwar gab es mir zu denken, dass sie alles darangesetzt hatte, mir ihre Familiengeschichte vorzuenthalten, doch nun fühlte ich mich, als hätte sie mir zu Recht nicht vertraut. Der Fund ihrer Geburtsurkunde hatte genau das bewirkt, was sie immer zu verhindern versucht hatte.
    Auf dem Rückweg von Buffalo fuhr ich einen kleinen Umweg über Rochester und fand schließlich die Lincoln Avenue. Ich starrte auf das leicht heruntergekommene Haus mit den Wänden, von denen die Farbe abblätterte, als könne ich dadurch seine Geheimnisse ergründen. Ich

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