Kein Entkommen
fragte mich, ob Jans ehemaliges Zimmer sich hinter den Fenstern im ersten Stock befand oder ob sie irgendwo hinten im Haus gewohnt hatte.
Ich stellte mir vor, wie sie als Kind durch diese Haustür ein und aus gegangen war und auf der Straße gespielt hatte. Seilspringen, Himmel und Hölle. Aber vielleicht waren die Bilder in meinem Kopf zu idyllisch. Vielleicht hatte es solche einfachen Freuden gar nicht gegeben in einer Kindheit, in der Liebe ein Fremdwort gewesen war und in der Jan nur Zorn und Ablehnung zu spüren bekommen hatte. Vielleicht war es für sie so gewesen, als würde sie ein Gefängnis verlassen, wann immer sie aus der Haustür getreten war. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie sie die Tage bei ihren Freundinnen verbrachte und nur nach Hause zurückkehrte, wenn kein Weg daran vorbeiging.
Aber es brachte nichts, das Haus anzustarren. Ich wusste nicht, was ich erwartete.
Dann tauchten ihre Eltern auf.
Horace und Gretchen Richler stiegen aus ihrem zwanzig Jahre alten Oldsmobile. Sie bemerkten mich nicht, da ich knapp zwanzig Meter entfernt auf der anderen Straßenseite parkte.
Horace öffnete die Fahrertür und setzte schwerfällig einen Fuß auf den Boden. Es kostete ihn sichtlich Mühe, sich aus dem Sitz zu hieven – wahrscheinlich Arthritis oder sonst etwas, das seinen Bewegungsapparat beeinträchtigte. Feines weißes Haar bekränzte seinen Schädel, und in seinem Gesicht prangten ein paar Altersflecken. Er war Ende sechzig, Anfang siebzig, klein und gedrungen, aber nicht fett. Stattdessen wirkte er verhältnismäßig fit für sein Alter.
Er sah ganz und gar nicht wie ein Ungeheuer aus. Andererseits ist das bei Ungeheuern ja häufig der Fall.
Er ging zum Kofferraum, während Gretchen auf der anderen Seite ausstieg. Ihre Bewegungen waren ähnlich schleppend wie seine, aber sie war schneller am Kofferraum und wartete darauf, dass er ihn aufschloss.
Sie war winzig, nicht mal einen Meter fünfzig groß, und wog höchstens vierzig Kilo. Trotzdem wirkte sie irgendwie drahtig. Sie nahm ein halbes Dutzend Einkaufstüten aus dem Kofferraum und ging zur Tür. Ihr Mann schlug den Kofferraum zu und folgte ihr mit leeren Händen.
Sekunden später schloss sich die Haustür hinter ihnen.
Soweit ich gesehen hatte, war kein Wort zwischen ihnen gefallen.
Zwei alte Leute, die vom Einkaufen nach Hause kamen. Gab es irgendetwas, was ich aus meinen Beobachtungen schließen konnte? Nein. Dennoch konnte ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass dieses Ehepaar aneinander vorbei lebte, sich nichts mehr zu sagen hatte. Es herrschte zwar keine offensichtliche Feindseligkeit zwischen ihnen, doch schien ein Schleier der Traurigkeit über ihnen zu liegen.
Ich hoffe, ihr seid traurig, dachte ich. Ja, ich hoffe, es geht euch so richtig dreckig.
Als der Oldsmobile in die Einfahrt gebogen war, wäre ich am liebsten ausgestiegen, um Horace Richler am Kragen zu packen und ihm ins Gesicht zu sagen, was für ein Dreckskerl er war. Dass ein Mann, der seine Tochter missbrauchte – und sei es nur emotional –, die Bezeichnung Vater nicht verdiente. Dass seine Tochter trotz allem zu einer völlig normalen Frau herangewachsen war. Ich wollte ihm sagen, dass er einen reizenden Enkelsohn hatte, den er jedoch niemals kennenlernen würde.
Doch ich tat es nicht.
Stattdessen sah ich zu, wie Horace Richler seiner Frau ins Haus folgte und sich die Tür hinter ihnen schloss.
Dann fuhr ich nach Hause und schwor mir, Jan niemals von meinem Abstecher nach Pittsford zu erzählen.
14
Auf dem Rückweg von der Brücke – Dad saß schweigend neben mir – dachte ich an den Tag, an dem ich die Richlers beobachtet hatte.
Was, wenn Jan sich schon seit Jahren mit dem Gedanken getragen hatte, mit ihren Eltern Klartext zu reden, ein für alle Mal mit ihnen abzurechnen? Was, wenn sie nie wirklich hatte durchblicken lassen, wie sehr sie quälte, was sie durch ihren Vater hatte erleiden müssen? Vielleicht hatte sie Angst gehabt, sich eine Blöße zu geben, wenn sie preisgab, wie sehr ihr Vater ihre Seele verletzt hatte. Andererseits hatte sie ja zugegeben, wie schwach und deprimiert sie sich in letzter Zeit fühlte.
Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte.
Ich versuchte mich in Jan hineinzuversetzen. Ich bin völlig durch den Wind, spiele sogar mit dem Gedanken, mir das Leben zu nehmen. Aber vorher werde ich meinem Vater ins Gesicht sagen, was ich von ihm halte. Meiner Mutter unter die Nase reiben, dass sie mich im Stich gelassen
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