Kein Entkommen
»Kaffee?«
»Gern.«
»Aber mit Ihnen ist es anders«, fuhr Gretchen fort.
Sie schenkte mir eine Tasse Kaffee ein, während ich darauf wartete, dass sie weitersprach.
»Sie kannten unsere Jan nicht. Sie haben sie nie kennengelernt. Sie kannten weder Horace noch mich. Und trotzdem sind Sie hier, weil Sie irgendetwas mit unserer Vergangenheit verbindet.«
Ich gab ein wenig Milch in den Kaffee, sah zu, wie sich die beiden Flüssigkeiten miteinander vermischten, und nickte. »Wenn ich nur wüsste, was«, sagte ich.
Gretchen stützte sich mit den Händen auf die Arbeitsplatte, als hätte sie etwas besonders Wichtiges zu verkünden. »Was ist Ihrer Meinung nach wirklich mit Ihrer Frau passiert, Mr Harwood?«
»Ich weiß es nicht«, gab ich zurück. »Ich habe Angst, dass sie sich etwas angetan haben könnte.«
Gretchen sah mich stirnrunzelnd an, doch dann fiel der Groschen. »Aber wenn … wenn sie doch noch lebt …« Sie rang nach Worten.
»Ja?«
»Und Sie sie finden … Wollen Sie dann alles unter den Teppich kehren?«
»Was meinen Sie?«
»Ihre Frau heißt nicht Jan Richler. Ist Ihnen das nicht klar?«
Ich sah zu Boden.
»Anscheinend ist sie doch nicht die Frau, für die sie sich ausgibt. Wie wollen Sie damit umgehen?«
Ich zögerte. »Vielleicht handelt es sich nur um eine Verwechslung«, sagte ich dann, »und es gibt eine völlig harmlose Erklärung für alles.«
Gretchen musterte mich ungerührt. »Was für eine?«
»Ich weiß es nicht.«
»Warum hat sie die Identität einer anderen Person angenommen? Für so etwas gibt es doch einen Grund.«
»Ich weiß es einfach nicht.«
»Und warum, um Himmels willen, hat sie die Identität meiner Tochter angenommen?«
Ich bekam kein Wort mehr heraus.
»Horace hatte recht«, sagte sie. »Wie kann jemand unserer Kleinen im Nachhinein so etwas antun? Ihrem Namen, ihrem Andenken? Wie kann sich ein Mensch so an einer Toten vergreifen?«
»Jan …« Der Name meiner Frau blieb mir im Hals stecken. »Sie kann das bestimmt erklären. Wenn sie tatsächlich dazu gezwungen war, einen anderen Namen anzunehmen, hat sie es bestimmt nicht getan, um Sie vorsätzlich zu verletzen.«
Was zum Teufel redete ich da eigentlich? Ich wusste selbst nicht mehr, was ich glauben sollte.
»Mal angenommen«, sagte ich zögernd, »dass sie ihre Identität wechseln musste, aus welchem Grund auch immer. Dass sie dabei den Namen Ihrer Tochter angenommen hat, könnte auch bloßer Zufall sein.«
Gretchen musterte mich skeptisch. Ich blickte auf meinen unberührten Kaffee.
»Horace hat die ganze Nacht kein Auge zugetan«, sagte sie. »Er war nicht nur zutiefst aufgewühlt. Er war wütend. Wütend darüber, dass uns jemand so etwas antut. Wütend auf Ihre Frau. Obwohl er sie gar nicht kennt.«
»Ich hoffe, Sie werden eines Tages mit ihr reden können«, sagte ich.
Ehe ich mich verabschiedete, schrieb ich ihr meine Telefonnummern und meine Adresse auf, nur für den Fall, dass Jan wider Erwarten doch noch bei den Richlers auftauchte.
»Bitte melden Sie sich, wenn Sie irgendetwas in Erfahrung bringen«, sagte ich.
Gretchen lächelte mich an, als wüsste sie, dass sie mir ohnehin nichts mitzuteilen haben würde.
***
Auf dem Rückweg klingelte mein Handy. Mom war dran.
»Wo steckst du denn?«, platzte sie heraus. »Wir sind außer uns vor Sorge. Warum hast du nicht angerufen?«
»In ein paar Stunden bin ich zurück«, sagte ich.
»Hast du Jan gefunden?«
»Nein.«
»Was ist mit den Richlers? Hast du mit ihnen gesprochen?«
»Ja«, sagte ich.
»Hat sich Jan bei ihnen gemeldet?«
»Nein«, sagte ich. Mir widerstrebte es, ihr mehr zu erzählen. Fast hatte ich Angst, nach Ethan zu fragen, der bestimmt schon wieder seine wilden fünf Minuten gehabt hatte, tat es aber trotzdem.
»Oh, ihm geht’s bestens. Heute Morgen haben wir gedacht, es gäbe ein Erdbeben, aber das war bloß er auf der Treppe. Dein Vater ist gerade unten im Keller mit ihm und …«
»Um ihn einzusperren?«
Mom lachte. »Quatsch. Sie reden über die Modelleisenbahn, die er ihm bauen will.«
»Okay. Ich sehe dann später vorbei und hole Ethan ab.«
»Ich liebe dich«, sagte Mom.
»Ich dich auch.«
Die Interstate ist ein ziemlich guter Ort, um in Ruhe nachzudenken. Und wenn man den Tempomat einstellt, funktioniert es noch viel besser. Aber ich war alles andere als ruhig. Und all meine Gedanken kreisten um immer dieselben Fragen.
Warum trug meine Frau den Namen eines Kindes, das im Alter von sechs Jahren
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