Kein Entkommen
ersten dreißig Meilen hatte sie immer wieder in den Rückspiegel gesehen und nur darauf gewartet, Blaulicht hinter ihnen zu sehen.
Dwaynes Geduldsfaden war ein echtes Problem; man wusste nie, wann er wieder ausrasten würde. Sie hoffte bloß, dass er sich einigermaßen im Griff hatte, bis die Sache in Boston erledigt war.
»Es tut mir leid, okay?«, sagte Dwayne. »Ist nicht nötig, länger hier herumzuzicken, Süße.«
Sie hielt die Hand aus dem Fenster, genoss den Fahrtwind zwischen den Fingern. Sie fuhren mehrere Meilen, ohne ein Wort zu wechseln. Sie war es, die schließlich das Schweigen brach.
»Wie war’s da eigentlich?«, fragte sie.
»Wo?«
»Im Gefängnis.«
»Fang bloß nicht wieder damit an.«
»Das meinte ich nicht«, gab sie zurück. »Wie lief das ab? So alltagsmäßig, verstehst du?«
»Man kann’s schlechter treffen. Man weiß, wann man aufstehen muss, wann das Licht ausgeht, wann es Essen gibt und wann Hofgang ist. Da lernt man, dass klare Regeln auch was für sich haben.«
Es war nicht die Antwort, die sie erwartet hatte. »Aber du konntest nirgendwohin«, sagte sie. »Du warst, na ja, ein Knacki eben.«
Dwayne hängte den Arm aus dem Fenster. »Stimmt, aber man musste auch nicht viel entscheiden. Von wegen, was ziehe ich heute an? Was hole ich mir zu essen? Wie kriege ich die Zeit rum? Ehrlich, manchmal frage ich mich, wie normale Leute das hinkriegen, dauernd irgendwelche Entscheidungen treffen zu müssen. Im Knast gab’s diesen Stress nicht. Irgendwie war es sogar beruhigend.«
»Das muss ja das reinste Paradies gewesen sein.«
»So hab ich’s nicht gemeint«, gab er zurück. »Das Essen war beschissen, außerdem gab’s nie genug. Wenn man am Ende der Schlange stand, guckte man meistens in die Röhre. Frische Wäsche gab’s auch viel zu selten. Seit sie einen Privatknast draus gemacht hatten, wurde an allen Ecken und Enden gespart.«
»Privatknast?«
»Der Laden wurde nicht mehr vom Staat, sondern einer Firma betrieben. Manche Wärter verdienten so schlecht, dass sie nicht wussten, wie sie ihre Familien ernähren sollten. Dagegen hatten wir beinahe das große Los gezogen. Aber egal. Für uns wird Kohle künftig jedenfalls kein Problem mehr sein.«
Dwayne wechselte auf die linke Spur und überholte einen Bus.
»Verstehst du jetzt, was ich damit sagen wollte?«, fragte er. »Von wegen Entscheidungen. Ich will nur eine einzige Entscheidung treffen – wie groß das Boot sein soll, das ich mir kaufe.«
Sie dachte darüber nach. Er hatte gar nicht so unrecht. Hatte ihr Leben in den letzten Jahren nicht fast ausschließlich daraus bestanden? Aus Entscheidungen? Endlosen Entscheidungen, die sie nicht nur für sich, sondern auch noch für andere hatte treffen müssen?
Am Ende hatte es sie nur noch erschöpft.
»Und?«, sagte sie. »Fühlst du dich jetzt frei?«
Dwayne blinzelte. »Ja, klar. Und wie. Also, ich will jedenfalls nicht wieder rein, falls du das meintest.«
Das Problem war, dass sie sich fühlte, als wäre sie ebenfalls jahrelang eingesperrt gewesen. Es war, als wäre sie aus einem Gefängnis geflohen. Und nun war sie hier, unterwegs auf dem Highway, und stützte die Füße gegen das Armaturenbrett, während ihr der Fahrtwind das Haar zerzauste.
Was für ein Gefühl. Der nackte Wahnsinn.
Sie fragte sich, warum sie sich trotzdem so mies fühlte.
***
Der Plan war ziemlich einfach.
Zuerst mussten sie die zwei Banken aufsuchen. Sobald sie die Ware aus den Schließfächern geholt hatten, würden sie bei diesem Typen vorbeifahren, der sich die Ware ansehen und ihnen ein Angebot machen würde. Wenn es nicht gut genug war, konnten sie ja verhandeln. Oder zu jemand anderem gehen. Wer sagte, dass man immer das erstbeste Angebot annehmen musste?
Sie hoffte bloß, dass sich das Warten gelohnt hatte. Ach was. Sie würden reich sein. Die Frage war nur, wie reich. Allein dieser Gedanke hatte sie all die Jahre durchhalten lassen. Keine Frage, die Aussicht auf Geld war eine mächtige Triebfeder. Die Gewissheit, dass sie am Ende aller Wahrscheinlichkeit nach mehrere Millionen Dollar einsacken würden.
Alles hätte schon viel früher klappen können, wäre Dwayne nicht wegen schwerer Körperverletzung hinter Gitter gewandert. Und danach war ihr schlicht keine andere Wahl geblieben, als sich in Geduld zu üben.
Auszuharren. Und abzutauchen. Das war besonders wichtig gewesen. Weil sie wusste, dass man nach ihr suchen würde. Sie hatte die Zeitungen gelesen. Sie wusste, dass
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