Kein Erbarmen
irgendetwas anderes nehmen. Oder er kann sich gleich vor den nächsten Zug werfen, da würde auch der Polizeipsychologe kaum helfen können.
Er fand das richtige Zimmer mit Hilfe des Namensschildes neben der Tür, auf dem auch Anna Koschinski stand. Sie hatten sich also zu dritt ein Zimmer geteilt.
Tabori klopfte, undeutlich rief jemand »Ja?!«
Er wusste vom ersten Satz an, dass sie logen. Er hatte sich nicht vorgestellt, nur gesagt, dass er noch ein paar kurze Fragen habe, die den Suizid von Anna Koschinski betrafen. Sie hatten es als selbstverständlich hingenommen, dass er von der Mordkommission war, er hatte nichts getan, um ihre Annahme zu korrigieren. Über die Unmutsäußerung der einen Anwärterin, dass sie doch bereits am Tag zuvor von einem anderen Kommissar vernommen worden seien, war er mit einem Schulterzucken hinweggegangen.
»Wir haben alles gesagt, mehr wissen wir nicht«, wiederholte die Anwärterin, die die Wortführerin der beiden zu sein schien. Güngör. Den Nachnamen hatte Tabori nicht richtig verstanden, ihre Kollegin hieß Janin Kaufmann oder Kaufhold, er speicherte die beiden unter Güngör und Janin ab.
Das Zimmer war – wie alle anderen im Container auch – ein Dreibettzimmer, hinter jedem Bett waren Fotos an die Wand geheftet, fast ausnahmslos Familienbilder, auch ein paar Postkarten, die sie sich wahrscheinlich gegenseitig aus dem Urlaub geschickt hatten, eine Reihe von Schnappschüssen, die die Anwärterinnen mit ihren Hunden zeigten. Tabori konnte mühelos Anna Koschinski als die dritte junge Frau auf den Fotos identifizieren.
Güngör und Janin hockten auf ihren Betten und verfolgten jede seiner Bewegungen mit einer Mischung aus Genervtsein und – Angst, dachte Tabori. Er drehte ihnen den Rücken zu und blickte aus dem Fenster. Draußen rannten immer noch Polizisten hin und her, die Nachmittagssonne warf harte Schatten.
Das Fenster war vergittert, ein Aufkleber wies darauf hin,dass es aus Sicherheitsgründen nur zu kippen war und jeder Versuch, es ganz zu öffnen, den Schließmechanismus beschädigen würde.
Tabori kniete sich vor die Katzenbox, die an der Heizung unter dem Fenster stand. Als er den Finger zwischen die Gitterstäbe schob, schlug die Katze spielerisch mit der Pfote. Obwohl sie noch so klein war, waren ihre Krallen deutlich spürbar. Tabori zog schnell die Hand zurück.
»Niedlich«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
»Annas Katze«, sagte Güngör. »Jetzt kümmern wir uns um sie. Eigentlich verboten, wir dürfen keine Tiere in den Zimmern haben.«
Tabori richtete sich auf.
»Aber jetzt ist ja keiner mehr da, der Ihnen Ärger deshalb machen könnte. Der Oberkommissar war auch Ihr Ausbilder, nehme ich an?«
»Was fragen Sie? Natürlich, aber das haben wir alles schon Ihrem Kollegen erzählt.«
»Ich würde es trotzdem gerne noch mal hören. Es gab konkrete Vorwürfe gegen ihn, das wissen Sie. Ich habe einen Zeitungsartikel gelesen, der allerdings nie erschienen ist, aber irgendjemand muss diese Vorwürfe ja erhoben haben.« Er drehte sich um. »Ihre Freundin Anna?«
Die beiden Anwärterinnen schüttelten die Köpfe.
»Wissen wir nicht«, sagte Güngör. »Anna war … sie hat uns nicht alles erzählt.«
»Und Sie, was können Sie mir von Ihrem ehemaligen Ausbilder erzählen?«
Zum ersten Mal kam die Antwort von Janin, als wollte sie vermeiden, dass Güngör etwas Falsches sagen könnte.
»Respekt war okay.«
Tabori zog die Augenbrauen hoch.
»Sie haben ihn Respekt genannt?«
»Er wollte, dass wir ihn so nennen. Aber er war okay«, wiederholte Janin. »Solange du die Regeln befolgt hast, war alles gut. Da war er cool.«
»Und wenn nicht?«
»Stehen wir unter irgendeinem Verdacht?«, mischte sich Güngör wieder ein.
Tabori sparte sich die Antwort. Er wartete ab, ob die beiden Anwärterinnen noch etwas von sich aus hinzusetzen würden.
»Wir haben ein Alibi. Wir waren in Lingen auf einer Fortbildung, als Respekt umgebracht worden ist. Sie können das nachprüfen, es gibt Anwesenheitslisten.«
»Damaschke auch?«, hakte Tabori ein. »Ihr Kollege, der verschwunden ist, war er auch da in Lingen? Er gehörte zur gleichen Gruppe wie Sie?«
»Logisch.«
Tabori nickte. Er wusste selber nicht, warum er nach Damaschke gefragt hatte. Er schwamm ohnehin, er hatte keinen Plan, er hangelte sich von einer Frage zur nächsten. Sein größtes Problem war, dass er keine Ahnung hatte, was Lepcke womöglich gestern bereits von den beiden Anwärterinnen erfahren
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