Kein Kanadier ist auch keine Lösung
Augenblicklich vergaß sie alles, Müdigkeit, peinliche Briefe, Menschenmengen. Sie ließ den Koffer fallen und stürzte sich in seine Arme. Er drückte sie, hielt sie so eng wie möglich. Und wie gut er roch. Ihre Knie gaben nach. Sie presste sich noch enger an ihn und die glühende Kugel in ihrer Brust begann zu pochen. Jeden Moment musste sie sein Hemd ansengen und sie würden beide in Flammen aufgehen.
John bewegte den Kopf, um ihr ins Gesicht zu sehen. Sie hob den Blick, und versank in seinen grünen Augen. Die Strahlen der Kugel breiteten sich aus und durchfluteten ihren ganzen Körper. Noch nie hatte sie einen schöneren Moment erlebt. Langsam näherte sich John ihrem Mund. Sie schloss die Augen, ihre Lippen trafen sich und sie fühlte die Kugel explodieren. Atemlos küssten sie sich, bis sie glaubte das Bewusstsein zu verlieren. John ließ schließlich sanft von ihr ab und hielt sie mit ausgestreckten Armen von sich.
„ Hallo, schöne Lady, brauchen Sie ein Taxi?“
Seine Stimme überrollte sie weich und warm. Sie fühlte erneut ihre Beine nachgeben. John legte einen Arm um ihre Hüfte und nahm ihren Koffer. Schwankend setzte sie einen Fuß vor den anderen.
„ Oh Gott, ich glaube, ich brauche ein Bett.“
„ Ich hatte gehofft, das ist das Erste, was du sagen wirst.“
Ein verheißungsvolles Lächeln umspielte seine vollen Lippen. Sandra seufzte. Ganz der Alte. Auf ins Abenteuer.
Sie fuhren aus der Stadt heraus in ein kleines Dorf. Es war noch früh am Morgen, alles war still und beschaulich. Die Berge der Rockys ragten hoch vor ihnen auf, schneebedeckt, denn es war bereits Ende September. Sandra hatte sich den Herbst in Kanada eisig kalt vorgestellt, doch John hatte erklärt, dass das Klima um Vancouver in etwa dem deutschen entspricht. Nur ein paar Stunden weiter nördlich war schon länger alles unter Schnee begraben. Von diesen nördlichen Regionen stammte Kanadas weltweiter Ruf. Die Bewohner beschrieben das kanadische Wetter so: acht Monate Winter und vier Monate schlechte Rodelbedingungen.
Hier war es nur kalt, von Schnee noch keine Spur. Die Landschaft erstrahlte in tiefen leuchtenden Rottönen, genannt Indian Summer . Bevor der Schnee kam, gab sich die Natur noch einmal verschwenderisch dem Rausch der Farben hin.
„ Das ist fantastisch“, murmelte sie.
„ Ich liebe diese Jahreszeit. Und den Winter, denn ich bin ein begeisterter Snowmobilfahrer.“
„ Oh, wirklich? Das klingt aufregend.“
„ Ich denke, es wird dir gefallen.“
Sie bogen in einen einsamen Waldweg ein, an dessen Ende ein herrlicher See erschien. Sie gab einen bewundernden Laut von sich.
„ Lebst du etwa hier?“
John hielt vor einem ranchartigen, weiß gestrichenen Gebäude, wie aus einer Szene von Vom Winde verweht, und machte den Motor aus.
„ Ja, Endstation. Willkommen in meinem Zuhause.“
Ein Haus direkt am See.
„ Bist du reich, John?“
Er schüttelte den Kopf und lachte.
„ Nein, warum?“
„ So ein Haus am See kann sich bei uns nur ein Millionär leisten.“
„ Wirklich? Das ist hier relativ normal. Fast jeder hat ein Haus.“
Sandra war beeindruckt. Sie hatte schon gehört, dass Kanada im Vergleich zu Deutschland sehr günstig war, doch mit so einer hohen Lebensqualität hatte sie nicht gerechnet.
„ Wohnst du hier ganz allein?“
Sie sah sich neugierig um. Über den Hof stand eine rote Scheune, wie man sie aus amerikanischen Filmen kennt.
„ Ja. Meine Eltern leben in Victoria auf Vancouver Island.“
Sie betraten das Haus und John stellte den Koffer ab.
„ Na, wie gefällt dir mein bescheidenes Heim?“
Bescheiden war gut. Das Holzhaus strahlte so viel Gemütlichkeit aus, sie wäre am liebsten auf die schwere Couch gesunken, die groß wie auf der Ponderosa Ranch vor dem Kamin stand, und sofort eingenickt.
„ Es ist fantastisch. So etwas kostet ein Vermögen in Deutschland.“
John lächelte. Er fühlte sich benommen vor Glück. Nun stand sie wirklich vor ihm, die Frau, die ihm schlaflose Nächte und qualvolle Tage bereitet hatte. Sie hatte es wirklich gewagt und war gekommen. Zu ihm, in sein Leben, in sein Haus, das er noch nie mit jemandem geteilt hatte. Ein beklemmendes Gefühl verbreitete sich in seiner Brust. Wie würde es laufen? Würde sie ihm bald auf die Nerven gehen, wie alle anderen Frauen? War sie wirklich etwas Besonderes? Oder liefen seine Hormone Amok und gaukelten ihm etwas vor, das nicht existierte? Mit einiger Mühe drängte er die brennenden Fragen zur
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