Kein Kanadier ist auch keine Lösung
winterlich zu sein. Reste von grauem Schneematsch warteten darauf, von einer frischen Lage Weiß bedeckt zu werden. Laut Wetterbericht sollte es wärmer werden. Sandra hatte nichts dagegen. Beim Anblick von Schneetreiben bekam sie Kanadadepressionen. Wie schön hatte es dort ausgesehen. Zuverlässig den ganzen Winter über bedeckte glitzernder Schnee die Landschaft, Häuser und Straßen, sodass es nie grau und schmutzig aussah, sondern stets märchenhaft weiß.
Ihr kam ein sonniger Tag in den Sinn, als sie mit John zu einem zugefrorenen See gefahren war. Die riesige Eisfläche lud zum Snowmobile fahren ein und manche Leute gingen zum Eisfischen. John hatte gelacht, weil Sandra sich nicht auf das Eis getraut hatte. „Vertrau mir, das Eis ist meterdick. Es wird nicht unter dir zusammenbrechen.“ Vertrau mir ...
Konnte sie ihm wirklich vertrauen? Das Eis jedenfalls hatte gehalten.
Sie schniefte, eine leichte Erkältung hatte sich eingeschlichen, als sie gerade nicht hingesehen hatte. Normalerweise gelang es ihr, die ersten Symptome zu unterdrücken, aber nun waren ihr die Medikamente ausgegangen. Überall begegneten ihr Hinweise auf Kanada, es war wie verhext. Als sie ins Auto gestiegen war, hörte sie im Radio einen Bericht aus einem kanadischen Nationalpark und am Gebäude der Apotheke hing ein riesiges Plakat, das Berge und einen See zeigte, mit der Aufschrift: Come to Canada! Ihr kanadisches Fremdenverkehrsamt .
„ Ich bin froh, dass du mitgekommen bist“, sagte Florence.
Sie standen im Nieselregen auf dem Parkplatz und Flo drückte auf den Sensor an ihrem Schlüssel. Der schnittige silberne BMW gab ein Piepgeräusch von sich. Sandra gab einen Grunzlaut von sich. Florence hatte sie zum Mitkommen überredet. Es gab keinen Grund, sich einzubilden, sie sei eine gute Freundin und habe selbstverständlich sofort zugesagt, um Flo einen Gefallen zu tun. Irgendwo in ihrem Kopf vermutete eine Stimme, Flo habe mit dieser Einladung ihr einen Gefallen tun wollen, um sie endlich mal aus dem Haus zu bekommen. Sämtliche Einwände von Halsschmerzen und Nasenverstopfung hatte Flo einfach überhört.
Hohe Bäume hinter dem Parkplatz rauschten und trotzten dem Wind, der ihnen die Arme ausreißen wollte. Was für ein Sauwetter. Sandra zog ihren Kragen höher. Viel lieber wäre sie in ihrem Bett geblieben.
„ In die Stille deiner eigenen Seele zu gehen, wird dir sicher gut tun“, vermutete Flo.
„ Aber dort bin ich doch schon längst.“
Flo schüttelte den Kopf. „Du bist allein, aber nicht in deiner Mitte. Du denkst zu viel und das macht krank. Die Situation hängt dir buchstäblich zum Hals raus, daher auch die Halsschmerzen.“
Dieser umwerfenden Logik hatte sie nichts entgegenzusetzen. Die Halsschmerzen waren echt, da gab es kein Rütteln. Ob die Analogie allerdings treffend war, vermochte sie nicht zu beurteilen.
„ Aber ich mag dieses esoterische Gedöns nicht, das weißt du ganz genau.“
Flo winkte ab, zog sie am Ärmel und hakte sich bei ihr unter. Es war erstaunlich, wie stur diese kleine Person sein konnte.
Sie betraten das Gebäude, in dem das Gruppenmeeting von Florence’ Meditationszirkel diese Woche stattfand. Am Ende eines langen Ganges stand eine Tür offen, ansonsten war alles still und unbeleuchtet. Auf dem Boden des großen Saals lagen Matten bereit und die Luft war geschwängert von einem süßen Duft. Sandelholz mit Zimt, vermutete Sandra. Im Hintergrund sangen leise und unaufdringlich Waldvögel und ein Bach plätscherte.
„ Ich muss aufs Klo“, flüsterte Sandra in Flos Ohr. Sie fühlte sich fast schuldig, die erhabene Stille zu stören.
Flo deutete auf die offene Tür. „Den Gang links, zweite Tür rechts.“
Sandra schlich sich auf weichen Turnschuhsohlen hinaus und fand die richtige Tür auf Anhieb. Ein Toilettenhinweisschild erleichterte die Sache ungemein.
Vor dem langen Spiegel stand eine junge Frau und starrte in ihr eigenes Antlitz. Blonde Haare wallten über ihren sonnengelben Kaftan. Sandra fragte sich, ob es sich um die Meditationsleiterin handeln könnte. Doch dann fing die Frau an zu schluchzen und Sandra blickte sich Hilfe suchend um. Niemand anders war im Raum.
„ Kann ich helfen?“
Die Frau schüttelte den Kopf und Sandra drohte in einer Wolke Patschuli-Parfüm zu ersticken.
„ Ich bin nur so glücklich. Sooo glücklich!“
Wieder schluchzte sie auf und weinte bitterlich. Sandra runzelte die Stirn und ging in eine der Toilettenkabinen. Die glückliche
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