Kein Kuss unter dieser Nummer: Roman (German Edition)
Alle.«
»Ach.« Ich räuspere mich, weiß nicht, wie ich reagieren soll. »Wow. Na. Das ist … das ist etwas krass, finden Sie nicht? Ich weiß ja, ich habe Ihre Mails auch gelesen, aber deshalb mussten Sie ja nun nicht gleich …«
»Es ist Lucinda.«
»Bitte?« Sprachlos starre ich ihn an.
»Wenn man mich fragt. Lucinda ist diejenige welche.«
Lucinda?
»Aber was … wieso?«
»Sie hat Sie belogen. Die ganze Zeit. An den Orten, die sie aufgeführt hat, zu den Zeiten, die sie angegeben hat, kann sie unmöglich gewesen sein. Es ist schlicht unmöglich.«
»Ehrlich gesagt … das ist mir auch schon aufgefallen«, räume ich ein. »Ich dachte, sie wollte mir vielleicht mehr Stunden in Rechnung stellen oder so …«
»Wird sie denn stundenweise bezahlt?«
Ich kratze mich an der Nase, komme mir dämlich vor. Denn das wird sie nicht. Sie bekommt einen Festpreis.
»Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Magnus und Lucinda Ihnen immer innerhalb von zehn Minuten eine Nachricht schicken?«
Langsam schüttle ich den Kopf. Wieso sollte mir das auffallen? Ich kriege jeden Tag Millionen Nachrichten von allen möglichen Leuten. Und außerdem, wie ist es ihm denn aufgefallen?
»Ich war früher mal Problemanalytiker.« Er wird etwas verlegen. »Das ist mein Ding.«
»Was ist Ihr Ding?«, frage ich verdutzt.
Sam holt ein Blatt Papier hervor, und ich schlage meine Hand vor den Mund. Ich glaube es nicht. Er hat eine Tabelle angefertigt. Daten und Uhrzeiten. Anrufe. SMS . E-Mails. Hat er das alles gemacht, als ich geschlafen habe?
»Ich habe Ihre Nachrichten analysiert. Sie werden gleich sehen, was los ist.«
Er hat meine Nachrichten analysiert. Wie analysiert man Nachrichten?
Er reicht mir das Blatt, und ich blinzle es an.
»Was …?«
»Sehen Sie die Korrelation?«
Korrelation. Ich habe keine Ahnung, wovon er redet. Es hört sich an wie etwas aus einer Matheprüfung.
»Äh …«
»Nehmen Sie dieses Datum.« Er zeigt auf das Papier. »Beide mailen gegen 18:00 Uhr, fragen, wie es so geht, im Plauderton. Um 20:00 Uhr teilt Magnus Ihnen mit, dass er noch bis spät in die Nacht hinein in der London Library arbeiten muss, und wenige Minuten später teilt Lucinda Ihnen mit, dass sie in einem Modegroßhandel in Shoreditch ist und die Strumpfbänder für die Brautjungfern aussucht. Um acht Uhr abends? Ich bitte Sie …«
Ich schweige einen Moment. Jetzt erinnere ich mich an die Mail wegen der Strumpfbänder. Sie kam mir damals etwas merkwürdig vor. Aber wegen einer merkwürdigen Mail kann man doch keine solchen Schlussfolgerungen ziehen, oder?
»Wer hat Sie überhaupt darum gebeten, meine Nachrichten zu analysieren?« Ich weiß, ich klinge empfindlich, doch ich kann nichts dafür. »Wer hat Ihnen gesagt, dass es Sie was angeht?«
»Niemand. Sie haben geschlafen.« Er spreizt die Hände. »Tut mir leid. Ich habe nur mal einen Blick darauf geworfen, und da hat sich ein Muster herausgebildet.«
»Zwei E-Mails sind kein Muster.«
»Es sind nicht nur zwei.« Er deutet auf das Blatt. »Am nächsten Tag muss Magnus abends ein Seminar halten, das er ganz ›vergessen‹ hatte. Fünf Minuten später erzählt Ihnen Lucinda von einer Spitzenklöpplerei in Nottinghamshire. Aber zwei Stunden vorher war sie noch in Fulham. Von Fulham nach Nottinghamshire? In der Rushhour? Das ist unrealistisch. Ich halte es für ein Alibi.«
Bei dem Wort »Alibi« wird mir richtig kalt.
»Zwei Tage später schreibt Magnus Ihnen eine SMS und sagt Ihre Verabredung zum Mittagessen ab. Im nächsten Moment schreibt Lucinda Ihnen eine Mail und erklärt, dass sie bis 14:00 Uhr wahnsinnig beschäftigt ist. Sie nennt Ihnen keinen anderen Grund für diese Mail. Warum sollte sie Ihnen mitteilen, dass sie irgendwann um die Mittagszeit wahnsinnig beschäftigt ist?«
Er blickt auf, wartet auf Antwort. Als hätte ich eine parat.
»Ich … ich weiß nicht«, sage ich schließlich. »Ich weiß es nicht.«
Während Sam fortfährt, reibe ich mir mit den Fäusten die Augen. Jetzt verstehe ich, wieso Vicks es macht. Um die Welt auszublenden, wenigstens für eine Sekunde. Wieso habe ich das alles nicht gesehen? Wieso um alles in der Welt habe ich das alles nicht gesehen?
Magnus und Lucinda. Das ist doch wohl ein schlechter Scherz. Die eine soll meine Hochzeit organisieren. Der andere soll heiraten. Und zwar mich !
Moment mal. Da kommt mir ein Gedanke. Wer hat mir die anonyme Nachricht geschickt? Sams Theorie kann nicht stimmen, denn irgendwer muss die SMS
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