Kein Schlaf für Commissario Luciani
die Richter seien Schuld an seinem Tumor, was den Kommissar anwiderte. Nicht genug, dass sie ihn seiner Lebtag benutzt hatten, noch als Leiche wollten sie ihn zu Propagandazwecken ausschlachten! Und selbst wenn der Tumor psychologische Ursachen gehabt hatte – wovon Luciani übrigens selbst überzeugt war –, so war seit dem Skandal zu viel Zeit vergangen. Genauso gut konnte er, der Sohn, mit seinem unbarmherzigen Verhalten der Auslöser gewesen sein.
Während der Sarg in die Kirche getragen wurde, traten einige Leute auf ihn und die Mutter zu, flüsterten: »Nur Mut«, oder: »Mein Beileid«, oder drückten ihnen nur ein wenig den Arm. Fotografen und Kameraleute balgten sich um die besten Positionen, und einen Moment lang war Marco Luciani versucht, sie zu verscheuchen, aber er wollte, dass die Schlagzeilen des nächsten Tages seinem Vater gehörten, nicht dem Sohn, der eine Schlägerei angezettelt hatte.
|369| Viele Reporter hatten bei ihm wegen eines Interviews angefragt, sie hofften wohl auf eine provokante Erklärung, aber er hatte nicht einmal geantwortet. Wenn andere seinen Vater rehabilitieren wollten, nur zu … Er wollte nicht zu dem Schluss kommen, dass die hässlichen, bösen Dinge, die er getan hatte, in Wirklichkeit schön und aufrichtig gewesen waren, denn dem war nicht so. Er wollte ihm am Ende verzeihen können, das war alles, er wollte daran denken, dass alle Menschen Fehler machten, manche mehr, manche weniger.
Auf seine Weise war er ein liebevoller Vater und Ehemann, sagte er sich, natürlich nicht sehr präsent und nicht sehr treu … Schwachsinn. Er war ein Schwein, und das weiß ich ganz genau. Warum kann ich ihn denn nicht einfach lieben, so wie es meine Mutter immer noch tut, warum kann ich nicht hinnehmen, dass es manchmal die Schwächen sind, die einen Mann groß machen?
Ihm gefiel dieser Gedanke, es gab Männer, die große Vorzüge hatten und Männer mit großen Fehlern, und auch diese wurden im allgemeinen sehr geliebt. Die Leute hatten lieber einen großartigen Schurken als einen durchschnittlichen Gutmenschen, sie wollten jemandem gehorchen, jemanden nachahmen, sich vollkommen hingeben.
Tante Rina bat ihn, sie auf der Treppe zu stützen. Die Schwester des Vaters war am Vorabend aus Rom gekommen. Marco Luciani hatte sie sicher schon zwanzig Jahre nicht mehr gesehen, und er hätte sie kaum wiedererkannt, wenn das fortschreitende Alter nicht auch ihren Leib auf das Wesentliche reduziert und aus ihrem Gesicht die familientypischen Züge herausgearbeitet hätte: Mehr denn je sah sie ihrem Bruder ähnlich. Auch wenn er sie nie besonders gemocht hatte, freute sich der Kommissar, dass sie ein paar Tage in Camogli bleiben würde, um seiner Mutter Gesellschaft zu leisten. Marco Luciani nahm beide an den |370| Arm, ging Richtung Kirche, und als er den Blick hob, sah er einen kurvenreichen Schatten auf der Mauer. Er erkannte den dazugehörigen Körper und wollte den Blick abwenden, doch er entkam nicht dem grünen Licht dieser Augen, das nicht einmal eine Sonnenbrille abzuschirmen vermochte.
Sie war ganz in Schwarz gekleidet, ein Kostüm mit knielangem Rock, ein Hütchen auf dem hochgesteckten Haar. Trotz der Hitze hatte sie auf ihre Seidenstrümpfe nicht verzichtet. Sie wusste, dass er sie gesehen hatte, ihre Blicke hatten sich nur für eine Millisekunde gekreuzt, aber der Kontakt war da gewesen, hatte den Kommissar kalt erwischt, und wie ein angeschlagener Boxer hatte er auf der Stufe geschwankt. Ohne das Gegenwicht seiner Mutter wäre er womöglich gestürzt.
Als er an Sofia Lanni vorbeikam, fixierte er noch einmal ihre Fesseln. Er war überrascht, dass er sie sich in Sandalen wünschte, statt in diesen geschlossenen Schuhen, die seinem Blick die geschmeidigen Füße, die wehrlosen Zehen vorenthielten. Er konnte die Augen nicht mehr heben, wandte sich seiner Mutter zu, und erst als er die Kirche betrat, meinte er, wieder in Sicherheit zu sein, als käme er von einem Ausflug auf einen Balkon ohne Geländer zurück.
»Deine Hände sind eiskalt,« sagte Donna Patrizia, »fühlst du dich nicht gut?«
Nach dem Gottesdienst blieben sie fast eine Stunde an der Kirchentür stehen, so viele Leute wollten der Witwe die Hand drücken und ein paar tröstliche Worte sagen. Marco Luciani hatte wieder die dunkle Brille aufgesetzt, und zwar nicht, um seine Tränen zu verbergen oder sich vor der Sonne zu schützen – er wollte vor Sofia Lannis Blick sicher sein, damit er sich nicht wieder in eine
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