Kein Schlaf für Commissario Luciani
Mutter, die schon genauso säuerlich dreinblickte wie heute. Noch ein Foto von Mantero: in den Bergen, auf einem Felsen sitzend, mit Bergstiefeln, Rucksack und Pickel, im Hintergrund nichts als blauer Himmel. Ein kleiner Rahmen mit zwei Porträts: Papst Wojtyla und Pater Pio. Ansonsten nur Bücher, Papiere, Dossiers, ein in Leder gebundener Terminkalender.
Als Giampieri wieder auf den Treppenabsatz kam, trat der Anwalt schüchtern an ihn heran: »Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wie lange das dauern wird? Ich müsste einige Sachen aus meinem Büro holen.«
Giampieri schüttelte den Kopf: »Sie machen Witze. Ihr Büro ist versiegelt. Auf unbestimmte Zeit.«
Sein Gegenüber legte den Kopf zur Seite, die Stimme klang ein wenig schrill. »Ich erlaube mir, Sie darauf hinzuweisen, dass ich Anwalt bin. Ich kenne meine Rechte, und ich bitte Sie nur darum, dass ich meinen Terminkalender und ein paar Unterlagen holen darf. Wenn Sie wollen, können Sie sie vorher kontrollieren, ich habe nichts zu verbergen, aber vor Freitag muss ich drei Kommissionen erledigen.«
|29| »Ihre Sekretärin wurde umgebracht, und Sie sorgen sich um Ihre Kommissionen? Sie hätte ich nicht als Chef haben wollen.«
Dem Broker blieb der Mund offen stehen, die Mutter wollte sich gerade einschalten, als ein Handy klingelte und für allgemeines Schweigen sorgte. Man hörte die Melodie eines Bocelli-Liedes. Der Anwalt bat um Verzeihung und zog einen nagelneuen Palm für über fünfhundert Euro aus der Tasche. Er fertigte einen Kunden lapidar ab und sagte, er werde zurückrufen, dann schaltete er das Gerät aus.
»Ist das ein Treo 750?«, fragte Giampieri mit offenkundiger Bewunderung.
»Nein, ein MyNav 168«, antwortete der Anwalt voller Stolz, »eben erst auf den Markt gekommen.«
»Darf ich?«
»Bitte.«
Giampieri wog es in der Hand und war angetan: leicht, aber nicht zu leicht. Er tat so, als würde er sich für alle Finessen interessieren und prüfte es auf Kratzer und andere Spuren.
»Sehr schön, alle Achtung«, sagte er, und gab dem Anwalt das Gerät zurück. Er ließ sich die Nummer geben, und während er sie in seinem Handy speicherte, sah er ein Polizeiauto kommen. Ein Mannsbild von fünfundfünfzig, sechzig Jahren stieg aus, eine erloschene Zigarre im Mund, Bierbauch. Er hinkte und schaute bärbeißig drein, unter den Achseln und am Rücken zierten große Schweißflecken sein Hemd. Man konnte sich nicht beklagen, Kommissar Roberto Venuti sah aus wie der Prototyp des Bullen aus einem Film Noir.
Eine Beamtin stellte die beiden einander vor, und sie musterten sich für einige Sekunden. Venuti schenkte Giampieri einen Blick, der so viel hieß wie: Was zum Teufel hast du hier zu suchen?, und der Ingenieur antwortete |30| mit: Warum habt ihr uns nicht früher verständigt? Aber keiner sagte ein Wort. Dann fasste Venuti den jüngeren Kollegen am Arm und bugsierte ihn in eine Ecke: »Hör zu. Wir wollen keine Zeit mit Hahnenkämpfen verschwenden. Die Stunden des Mädchens sind gezählt, sie wird gerade nach Genua gebracht. Soll dort operiert werden, aber sie hat keine Chance mehr. Mein Vorschlag ist: Wir greifen uns Mantero, nehmen ihn mit aufs Revier und quetschen ihn aus, bis er gesteht. Etwas dagegen?« Der Ingenieur war von seinem Atem und den ätzenden Ausdünstungen seines Kunstfaserhemds wie benebelt.
»Aber, um ehrlich zu sein, er scheint mir nicht der Typ für …«
»Lass dich nicht verarschen. Er sieht aus wie ein braves Jüngelchen, nicht wahr? Aber ich kenne ihn. Er ist ein ausgemachter Hurensohn, in Rapallo hat er seine Finger überall drin. Entweder war er es, oder er weiß zumindest etwas. Aber wir müssen ihn sofort in die Mangel nehmen.«
»Nichts dagegen. Und die Eltern des Mädchens?«
»Mit denen habe ich schon geredet. Aber sie stehen unter Schock. Reine Zeitverschwendung.«
In dem Moment hielt ein blauer Dienstwagen vor der Tür.
»Die Staatsanwältin. Gibt sich endlich auch die Ehre. Ich stelle sie dir jetzt vor, aber überlass sie dann mir«, sagte Venuti schnell.
»Jetzt kommt die? Ich dachte, sie war mit dir im Krankenhaus.«
»Von wegen. Als man ihr Bescheid gab, wird sie erst einmal nach Hause gerannt sein, um sich umzuziehen und zu frisieren. Siehst du nicht all die Fernsehkameras?«
Giampieri merkte sich auch diese Spitze: Wenn es Unstimmigkeiten zwischen dem Kommissar und der Staatsanwältin |31| gab, dann konnte er versuchen, sie zu seinem Vorteil auszunutzen.
Kaum war Staatsanwältin
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