Kein Schlaf für Commissario Luciani
kraftvoll federnden Schrittes wie zwei Raubkatzen. Eine kompakte Masse aus Muskeln und Angriffslust. Er bat die Bedienung um ein Glas Wasser, weil sein Mund ausgetrocknet war, und dann dachte er instinktiv an Marco Luciani, an seine Fähigkeit, in solchen Momenten kühlen Kopf zu bewahren. Er hatte versucht, Selbstsicherheit zur Schau zu stellen, aber es war ihm nicht besonders gut gelungen.
»Sie haben es geschafft, mich einzuschüchtern«, dachte er wütend, während er versuchte, seine Ratio davon zu überzeugen, dass es dafür keinen Grund gab. Sicher, wenn sie sich so weit vorgewagt hatten, dann hieß das, dass eine Menge auf dem Spiel stand, es waren wahrscheinlich millionenschwere Geschäfte oder mächtige Persönlichkeiten involviert. Oder noch wahrscheinlicher: beides.
|246| Dienstag
Luciani
Wer weiß, wer diese scheiß Trainingspläne erstellt, dachte Marco Luciani, während er sich im Schneckentempo die Steigung hinaufkämpfte. Ein Sadist, oder ein Rollstuhlverkäufer. Sein Programm, das er in einer Fachzeitschrift gefunden hatte, versprach einen »Marathon in acht Wochen«, aber es richtete sich auf keinen Fall an blutige Anfänger und nicht einmal an einen Amateur wie ihn, der schon ein gewisses Trainingsniveau hatte. Fünf Trainingseinheiten pro Woche, zur Regenerierung war praktisch keine Zeit: Es konnte passieren, dass man an einem Tag eine Stunde Ausdauertraining und am Folgetag vierzig Minuten Bergläufe absolvieren musste. Andererseits hat es heute jeder eilig, dachte er, und wenn du sagst: »Marathon in sechs Monaten«, wer bringt dann schon das Durchhaltevermögen für einen solchen Zeitraum auf? Sicher niemand, der Arbeit, Familie und Kinder hatte. Einer wie ich schon, ich habe zwar viele Fehler, aber wenn ich mich für eine Sache entscheide, dann bringe ich sie auch zu Ende. Sein Puls lag bei hundertachtzig, und er spürte, dass er nicht einen Schritt mehr schaffen würde auf diesem Kreuzweg, der hinauf nach Castelletto führte, und doch tat er den nächsten Schritt und dann noch einen und noch einen. Es fehlten noch zweihundert Meter bis zum Ende der Creuza 1 , als ihn die Übelkeit übermannte, er fiel auf die Knie und erbrach sich am Wegesrand. Gut fünf Minuten währte der Würgekrampf, obwohl er nichts gegessen hatte. Niemand kam |247| vorbei, nur ein Rentnerpaar, das ihn für einen Junkie hielt und zusah, dass es Land gewann.
Wenn ich mich für eine Sache entschieden habe, dann bringe ich sie auch zu Ende, wiederholte er sich im Stillen, vor allem, wenn die Sache hirnverbrannt ist. Er stand auf und ging langsam zum Ende der Steigung.
Er hatte geduscht und sich ins Bett gelegt. Doch konnte er weder schlafen noch sich auf irgendetwas konzentrieren. Er dachte an Barbara Ameri und versuchte, sich so weit wie möglich mit ihr zu identifizieren, sich an Ängste und Träume zu erinnern aus der Zeit, als er selbst fünfundzwanzig war und der Ruin seines Vaters ihn dazu getrieben hatte, sein Leben neu zu definieren. Vielleicht hätte ich das auch ohne den Skandal getan, dachte er. Vielleicht war ich nicht zum Anwalt geboren und habe mich bei der erstbesten Gelegenheit abgesetzt, so wie ich mich einige Jahre davor aus der Welt des Fußballs verabschiedet hatte und so wie ich mich jetzt aus dem Polizeidienst davonstehle. Vielleicht stimmt es nicht, dass ich die Dinge zu Ende bringe. Bei so einer idiotischen Angelegenheit wie dem Joggen schon, aber bei allen entscheidenden Dingen scheue ich zwar weder Opfer noch Mühen, um bis kurz vor das Ziel zu gelangen, aber wenige Meter vor dem Gipfel, wenn ich anhalten und die Aussicht genießen könnte, behaupte ich dann unter irgendeinem Vorwand, das Panorama sei ätzend. Ich kehre um und renne weg, ohne mich noch einmal umzusehen.
Ich habe immer gedacht, es wäre besonders mutig von mir gewesen, auf Erfolg, Karriere und Geld zu verzichten. Ich hätte mir das Leben schwergemacht und immer wieder neu angefangen, jedes Mal unter schlechteren Bedingungen. Aber ist das wirklich wahr? Oder habe ich nicht einfach nur Angst, verzichte ich nicht vor allem deshalb auf das Erbe, weil ich mich vor der Verantwortung drücke?
|248| Barbara Ameri war die Sekretärin eines Brokers, mit geringer Bezahlung und wohl auch geringem Ansehen. Ein schüchternes Mädchen, sexuell unsicher, das zusah, wie seine Freundinnen flügge wurden. Sie setzte sich ein für andere, für die Armen, die Prostituierten, sie ging in die Kirche, verbrachte die Wochenenden mit den Eltern.
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