Kein Schlaf für Commissario Luciani
Ihr Leben war eine Ansammlung von Verpflichtungen. Aber wer weiß, vielleicht spürte sie tief im Innern, mit fünfundzwanzig, den übermächtigen Wunsch, alles hinzuschmeißen und abzuhauen, bevor es zu spät war. Sie träumte von einem tollen Job, einem eigenen Zuhause, einem Freund. Oder vielleicht auch nicht, vielleicht wollte sie nur ein wenig das Leben genießen, ihre Jungfräulichkeit und damit ihre Ängste loswerden.
Und Giulio Mantero? Auch er lebte bei seiner Mutter, ging zur Kirche, auch er war Gefangener seiner Pflichten. Vielleicht hegte er dieselben Sehnsüchte, träumte von derselben Flucht. Sie waren einander ähnlich, aber vielleicht zu ähnlich, um eine derartige Tragödie auszulösen.
Vielleicht hatte Barbara Ameri eine Entscheidung getroffen und zu Ende geführt, dachte der Kommissar, selbst als sie merkte, dass sie falsch gewesen war.
Zu viele Hypothesen, dachte er. Andererseits sind es Hypothesen, mit denen man einen Fall löst, und nicht mit DNA-Analysen.
Er zog sich an, nahm die Akten und ging wieder hinaus, er wollte die Unterlagen in der Sonne lesen, auf einer Bank im Porto Antico.
Er kam gerade mit seinem Einkauf aus dem Gemüseladen zurück, als ihn der Neapolitaner am Fenster anhielt.
»Mamma mia, Commissario. Du siehst nicht aus, als hättest du viel geschlafen. Die Frauen werden dich noch ins Grab bringen.«
|249| Marco Luciani war nicht zum Scherzen aufgelegt. Er war um drei Uhr aus Santa Margherita zurückgekommen, und um fünf hatten die Möwen ihm einen guten Morgen gewünscht. Um sieben war er joggen gegangen und hätte fast einen Herzanfall bekommen. Eine bitterböse Vorahnung sagte ihm jetzt, dass die Probleme für heute noch nicht ausgestanden waren.
»Der Dealer ist heute Nacht zur Bestform aufgelaufen, Pasquale. Deine Gebete scheinen nicht viel zu helfen«, sagte er, um das Gespräch abzukürzen.
»Gut Ding will Weile haben, Commissario. So ein Heiliger kann schließlich auch nicht zaubern.«
Das war eines Iannece würdig, dachte Luciani. »Sag mal, du hast nicht zufällig einen Bruder bei der Polizei?«
»Gott behüte, Commissario. O Mist, entschuldige … damit wollte ich nicht … ich wollte niemanden beleidigen, aber du weißt, wie es ist. Sagen wir, es liegt nicht … in der Tradition der Familie.«
»Und … wer soll dieser Heilige sein? San Gennaro?«
Der andere sah sich um, ein wenig unschlüssig. Vielleicht überwog dann das Schuldbewusstsein angesichts seines Fauxpas, und er bat Luciani hoch in die Wohnung. Der Kommissar hatte nicht die geringste Lust, gab aber nach.
»Bitte, komm rein, nimm Platz. Wir trinken ein Glas Wein, und ich erzähle dir die Geschichte. Das ist eine ziemlich vertrauliche Angelegenheit, nur ganz wenige kennen sie. Mein alter Taufpate lehrte sie mich, ein Genueser, den mein Vater auf der Michelangelo kennengelernt hatte, das Schiff, erinnerst du dich?«
»Klar erinnere ich mich«, sagte der Kommissar, der sich an den Küchentisch setzte, während der Neapolitaner zwei Gläser und eine Strohflasche mit Chianti aufdeckte.
»Ich trinke nicht, Pasquale. Gib mir ein Glas Wasser, Leitungswasser ist okay.«
|250| »Wie du willst.«
Er brachte das Wasser und setzte sich. »Dieser Typ war Oberkellner, glaube ich, mein Vater Capo im Maschinenraum, und sie hatten sich angefreundet, jedenfalls zog ich auch deswegen 1963 nach Genua. Als ich ankam, wohnte ich eine Weile bei meinem Cousin, in der Gegend von San Bernardo. Ich wollte mich erst einmal nach einer Bleibe umsehen. Nach ein paar Jahren – ich hatte inzwischen eine Tochter und wollte seine Gastfreundschaft nicht ausnutzen – hörte ich mich ein bisschen im Haus um, ob jemand eine Wohnung zu vermieten hätte. Ein Stockwerk tiefer war ein kleines Apartment, der Mieter ein sizilianischer Matrose, der immer in der Weltgeschichte herumgondelte. Die Vermieterin war unzufrieden, weil er die Wohnung verlottern ließ, ist klar, außerdem zahlte er nie pünktlich die Miete. Die Eigentümerin sagte mir, ich bekäme die Wohnung, wenn ich den Sizilianer zum Ausziehen bewegen würde.«
Er trank sein erstes Glas aus und schenkte das zweite ein, während der Kommissar sein Kalkwasser goutierte.
»Also warte ich, bis der Sizilianer von einer seiner Reisen zurückkommt und versuche, mit ihm zu reden, um eine Lösung zu finden, aber der stellt sich taub, besser gesagt, er wird sauer und droht mir sogar, meint, er hätte Freunde in jedem Winkel der Welt, und ich würde noch nicht einmal
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