Keine Angst
Betäubung?«
»Auch nicht«, wimmert Cora unglücklich. Vielleicht hätte sie doch woanders hingehen sollen. Irgend jemand hätte sich schon gefunden, der es bei einem Sälbchen und was zu spülen belassen hätte.
»Stell dich nicht so an«, trällert Susanne munter, während sie die Spritze fertigmacht. »Du warst in der Schule auch nicht gerade zimperlich.«
Sie wirft Cora einen langen, schwer zu deutenden Blick zu.
»Das ist doch alles lange her«, murmelt Cora.
»Auch wieder wahr. Mund auf.«
Die Spritze richtet sich in Susannes Händen aus. Eine Waffe! Ein Stechinsekt! Cora zuckt zusammen.
»Hey, Cora, ganz ruhig. Ich hab doch noch gar nicht gepiekst.«
Die Nadel nähert sich. Dann fließt das Betäubungsmittel an verschiedenen Stellen unters Zahnfleisch, und Cora muß zugeben, daß Frau Doktor auch diese Prozedur souverän beherrscht. Der Schmerz ist unwesentlich.
Sie wartet auf das taube Gefühl.
Eine riesige, silberne Klammer schließt sich um ihren Unterkiefer und drückt von innen gegen die obere Gaumenplatte, so daß Cora ihren Mund nicht mehr schließen kann. Nichts davon spürt sie. Die Betäubung hat sich binnen weniger Sekunden über die gesamte untere Gesichtshälfte verteilt.
Eigentlich fühlt sich Cora jetzt ganz wohlig.
Frau Doktor lächelt.
»Schon seltsam«, sagt sie freundlich, »daß du dich nicht an mich erinnerst.«
Cora lallt eine Antwort, aber sie kann ja nicht mehr sprechen. Nacheinander verschwinden weitere Instrumente und Schläuche in ihrem Mund. Sie hört, wie gurgelnd und knisternd der Speichel abgesaugt wird.
»Ich weiß, ich weiß.« Susanne winkt ab. »Du wolltest sagen, daß du dich sehr wohl erinnern kannst. Nett von dir. Sehr diplomatisch. Aber was soll’s? Du hattest schon damals immer nur Augen für dich selber. Alle anderen waren dir scheißegal. Ich hatte weder Haare bis zum Arsch noch eine Puppe an meinem Ranzen.«
Was soll das, denkt Cora. Was soll dieser ganze Zirkus? Warum zieht die blöde Kuh nicht endlich den Zahn und gibt Ruhe?
Dann spürt sie etwas Neues.
Müdigkeit. Warum? Sie war nicht müde, als sie kam.
»Dabei müßtest du dich gut erinnern«, fährt Susanne ungerührt fort. »Sehr gut sogar. Du bist ja mit daran schuld, daß ich diesen Beruf ergriffen habe. Ein bißchen zumindest. Sagen wir mal, du hast mich inspiriert.«
Immer noch lächelt sie, aber die Wärme ist aus ihrem Blick verschwunden.
»Vierte Klasse, Sommerferien. Erinnerst du dich an die Blumen auf der Fensterbank in unserem Klassenzimmer? Topfpflanzen. Nichts besonderes. Nicht unbedingt das, was wir uns heute in die Wohnung stellen würden, aber als Kind empfindest du so was natürlich anders. Mit neun Jahren verehrst du jedes Gänseblümchen.« Sie beugt sich vor und zwinkert Cora zu. »Selbst du. Obwohl du immer schon einen auf cool gemacht hast. Aber weißt du noch, am letzten Schultag vor den Ferien, wie es darum ging, wer von uns Bälgern einen Topf mit nach Hause nehmen durfte, um ihn für die Dauer der sechs Wochen zu pflegen? Laß mich mal überlegen – fünf oder sechs Töpfe, glaube ich, bei annähernd dreißig Schülern, von denen jeder ›Hier!‹ schreit – wer soll denn da nun einen abbekommen?«
Plötzlich hält Susanne eine kleine Zange in der Hand. Die Instrumente scheinen ihren Händen zu entwachsen. Die Zange hebt ein kompaktes, weißes Pölsterchen auf und bugsiert es unter Coras Zunge. ›Zigaretten rauchen‹, hat ihr Zahnarzt immer gesagt, als sie noch klein war – diese speichelaufnehmenden Polster waren Zigaretten, und wenn der Bohrer zu schnurren begann, wurde das ›Autofahren‹ genannt.
»Klar, daß du am lautesten geschrien hast. Hast aber keinen abgekriegt. Es waren halt nicht genug da. Vielleicht hat unsere Lehrerin auch gedacht, daß du eigentlich eh von allem schon zu viel hast. Zu viele Bewunderer, zu viel Schönheit, eine zu große Klappe. Ha, ich kann mich erinnern, wie du getobt hast! Du wolltest ums Verrecken so einen Blumentopf abstauben. Ich glaube, die Blumen waren dir scheißegal, nur, daß du deinen Willen nicht bekommen solltest, das hat dich fast um deinen kleinen, beschränkten Puppenverstand gebracht. Und daß jemand wie ich, das Mauerblümchen, den schönsten und größten mit nach Hause nehmen durfte! Das konntest du nicht fassen. Wo du immer so gerne auf mir rumgehackt hast. Weißt du noch?«
Coras Augenlider werden schwerer. Puppenverstand? Was nimmt die Schlampe sich heraus?
Dann beginnt sich in ihrer Erinnerung
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