Keine große Affäre
kam Lia mit ihrem
winzigen Säugling herein, der in eine weiße, luftdurchlässige Decke gewickelt
war. »Neil wartet schon im Auto«, erklärte sie. »Deshalb kann ich nicht lange
bleiben, aber ruf mich auf alle Fälle an, wenn du zu Hause bist... Und viel
Glück mit dem Stillen...«
»Ja«, war alles, was Alison sagen konnte,
weil sie wegen all der Freundlichkeit plötzlich am liebsten wieder zu weinen
angefangen hätte.
Die Luft war immer noch drückend warm,
und die dünnen, gemusterten Vorhänge hielten wenig Sonne ab. Sie wollte sich
auf die Seite legen, aber ihre Naht tat ihr zu weh. Sie spürte, wie ihr der
Schweiß den Nacken herunterlief und das Nachthemd am Rücken klebte. Sie lag da
und betrachtete ihren Sohn. Sie rechnete jeden Augenblick damit, von Zuneigung
zu ihm überwältigt zu werden, doch sie empfand nur schmerzliche Einsamkeit.
Mrs. Gardner hatte blaßblaue Augen,
genau wie ihr Sohn, aber in ihrem Gesicht sahen sie alt, wäßrig und kritisch
aus. Lia wünschte, sie würde verschwinden und sie allein lassen.
Zu Beginn hatte Lia es schön gefunden,
noch eine Frau im Haus zu haben. Obwohl sie sich in Gesellschaft von Neils
Mutter noch nie wohl gefühlt hatte — sie spürte deren Mißtrauen gegen ihre
stürmische Liebesaffäre mit ihrem jüngeren Sohn — , hoffte Lia, sie könnten
sich anfreunden, jetzt wo sie die elementare Erfahrung der Geburt teilten. Mrs.
Gardner hatte ihr auch viel im Haushalt geholfen. Es war ja schön und gut, wenn
Neil darauf bestand, alles zu erledigen, aber das Ergebnis war, daß sich die
Wäsche aufgetürmt hatte, der Linoleumboden in der Küche klebte und der
Mülleimer überquoll und vor sich hin stank. Lia hatte nicht gewußt, wie sie das
Problem angehen sollte, ohne ihn zu beleidigen. Sie spürte, daß er sich sowieso
schon ausgeschlossen fühlte, weil sie eine enge Beziehung zu dem Kind
entwickelte. Eine Stunde nach Mrs. Gardners Ankunft war die Küche so sauber wie
seit Monaten nicht mehr, und an der Wäscheleine wehten weiße Strampelanzüge und
winzige Unterhemden wie bunte Festwimpel.
Lia hatte es sogar Spaß gemacht, Mrs.
Gardners Erzählungen über Neils Jungenstreiche zuzuhören. Sie beneidete
Familien um diese Geschichten, die man herauskramen konnte wie Fotoalben, die
man immer wieder erzählen und noch einmal gemeinsam durchleben konnte, wenn man
zusammenkam.
Alles war in bester Ordnung gewesen,
bis Mrs. Gardner anfing, sich heimisch zu fühlen und gute Ratschläge zu geben.
Und jetzt, als sie kritisch in die Babytragetasche äugte, wo Anouska auf dem
Rücken lag und schlief, war Lia sicher, daß sie gleich wieder eine ihrer
Weisheiten zum besten geben würde.
»Wir haben sie immer auf den Bauch
gelegt«, sagte Mrs. Gardner zum dritten Mal an diesem Morgen.
»Heutzutage wird einem aber geraten,
sie auf den Rücken zu legen... Das steht sogar in dem Buch, das man bekommt«,
antwortete Lia, die hoffte, die Sache wäre endlich erledigt, wenn sie es
schwarz auf weiß sehen würde.
Mrs. Gardner blickte verächtlich auf
das Buch. »Wir hatten keine Bücher«, sagte sie, als sei das etwas, worauf man
stolz sein konnte.
»Na ja, jedenfalls raten einem die
Ärzte das«, sagte Lia geduldig.
»Sie wird an ihrem Erbrochenen
ersticken, wenn sie sich übergibt«, warnte Mrs. Gardner in unheilverkündendem
Ton, fast als wollte sie das Baby dazu bringen, genau das zu tun, um zu
beweisen, daß sie recht hatte.
Lia entschloß sich, sie zu ignorieren.
Minutenlang gähnte Schweigen zwischen ihnen, dann fing Anouska an zu weinen.
Lia war fast erleichtert, sie zu hören. Sie nahm sie aus der Tragetasche und
legte sie an die Brust.
»Du verziehst sie, wenn du ihr immer
was gibst, sobald sie schreit«, meinte Neils Mutter.
Lia unterdrückte ihre Wut und
streichelte den Kopf des Babys, um sich zu beruhigen.
»Einmal alle vier Stunden. So haben
wir’s gemacht, und wenn sie schreit, laß sie halt. Das ist eine gute Erfahrung
für sie. Man bekommt eben nicht immer alles, nur weil man weint.« Mrs. Gardner
lächelte und gratulierte sich selbst zu ihrem gesunden Menschenverstand.
Ach, halt den Mund, du alte Kuh, hätte
Lia am liebsten geschrien, aber sie sagte nichts.
»Schade, daß deine Mutter dich jetzt
nicht sehen kann«, bemerkte Mrs. Gardner.
Überrascht sah Lia auf. Sie hatte
schon immer den quälenden Verdacht gehabt, daß Mrs. Gardner sie für ihre
Kindheit verantwortlich machte, als ob es ihre Schuld gewesen wäre, in einem
Heim aufgewachsen zu sein.
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