Kelwitts Stern
den ein Codename wie »Walross« oder »Nilpferd« viel besser gepasst hätte. Er hatte einen Bauch wie ein Fass, lief entweder unrasiert oder mit heraushängendem Hemd herum oder beides, und im Tageslicht sah seine Haut bleich und ungesund aus. Aber diese Begegnung fand ohnehin höchst selten statt.
»Hier?!«, kam seine piepsige Stimme aus dem Hintergrund. (Man munkelte, Haselmaus sei obendrein der letzte lebende Kastrat.)
»Hast du Zugriff auf die Adressbuchdatei von Stuttgart?«, fragte Hase.
»Ein Verzeichnis aller Einwohner? Name und Adresse?«
»Ja, sag’ ich doch. Ein elektronisches Adressbuch. Hast du darauf Zugriff, oder läuft da auch irgendeine Datensicherung?«
Haselmaus gab einen Ton äußerster Herablassung von sich. »Das hab ich alles hier auf CD-ROM. Was willst du wissen?«
»Mach bitte einen Abgleich zwischen dem Adressbuch und der Datei, die wir von der Zulassungsstelle bekommen haben. Diese aussichtslos lange Liste von Besitzern eines schwarzen oder dunkelgrauen Mercedes in Stuttgart, du weißt schon.« Hase sah schräg in die Luft und kniff die Augen zusammen, während er seine Anforderung definierte. Jetzt nichts falsch machen. »Wie viele von dieser Liste haben Töchter namens Sabrina? Das ist die Frage. Geht das?«
»Also, ob es Töchter sind, kann ich dir nicht sagen. Aber ich kann dir aus der Liste alle herausfiltern, unter deren Adresse zusätzlich jemand mit dem Vornamen Sabrina gemeldet ist. Das kann dann aber genauso gut die Ehefrau oder Großmutter sein.«
»Das ist okay. Wie lange dauert das?«
»Eine halbe Stunde, zwanzig Minuten … ich bin schon dran.«
Wiesel wirkte enttäuscht. Dann fiel ihm ein: »Das kann nicht funktionieren. Minderjährige stehen nicht im Adressbuch.«
»In meinem schon«, ließ Haselmaus sich aus dem Hintergrund vernehmen.
Schweigen senkte sich über die Runde der Männer. Minutenlang war nur unregelmäßiges Tastaturgehacke zu vernehmen, ab und zu unterbrochen von hellen, unartikulierten Lauten, die Haselmaus von sich gab. Dann verstummte auch die Tastatur.
»Abgleich rennt«, verkündete Haselmaus.
Und, keine Minute später: »Es ist genau einer. Sein Name ist Wolfgang Mattek. Wollt ihr die Adresse auch?«
Hase spuckte den Kugelschreiber aus und sprang auf. »Das ist er. Trommelt alle zusammen. Es geht los.«
»Wer war das?«, wollte Thilo wissen, als seine Mutter wieder auflegte, kaum dass sie sich gemeldet und einmal »Nein, leider nicht« gesagt hatte.
»Ich weiß nicht. Ein Mann. Er wollte wissen, ob Sabrina zu Hause sei. Er hat gleich wieder eingehängt.«
»Seltsam«, meinte Thilo.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ach, deine Schwester kriegt öfter solche Anrufe, weißt du. Komm, hilf mir lieber mal mit dieser Girlande hier.« Sie waren mitten in den Vorbereitungen für die Silvesterparty. Silvester zu feiern war unabdingbar im Hause Mattek, und natürlich war es Ehrensache, um Mitternacht jeweils das größte Feuerwerk weit und breit abzufeuern. Auch wenn es Kelwitt nicht gut ging und sie seinetwegen diesmal ohnehin niemanden einladen konnten, würden sie den Jahres-, Jahrhundert- und Jahrtausendwechsel doch einigermaßen angemessen begehen, das war beschlossene Sache. »Allerdings könnte sich Sabrina wirklich mal wieder melden.«
Thilo stieg die Leiter beim Fenster hinauf, um das andere Ende der Girlande mit einem Reißnagel in den Holzpaneelen der Decke zu befestigen. Dabei fiel sein Blick hinaus auf die Straße und den weißen Lieferwagen ohne Aufschrift, der schon eine ganze Weile auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand, ohne dass etwas passierte.
Niemand lud etwas ein oder aus, trotzdem glaubte er ein Gesicht im Wageninneren zu erspähen. Fast wie im Film.
»Gut«, meinte seine Mutter, als die Girlande hing. »Jetzt die blaue auf die andere Seite. Was macht Kelwitt eigentlich?«
»Schreibt«, sagte Thilo und stieg die Leiter wieder herab. »Sagt er zumindest. Für mich sieht es aus, als ob er lauter Schaltpläne zeichnet oder so was.«
Sie fuhren in Thomas Thiemes dunkelgrünem altem VW-Bus auf der stadtauswärts führenden Schnellstraße.
»Wozu braucht ein Student wie du eigentlich so einen halben Lieferwagen?«, wollte Rainer wissen.
Thomas wiegte den Kopf. »Wenn du heute früh tatsächlich um halb sechs da gewesen wärst, hätte ich dir noch mein Atelier zeigen können. Dann hättest du gesehen, dass ich ziemlich große Formate male.« Er zuckte mit den Schultern. »Und die wollen transportiert
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