Kennen Wir Uns Nicht?
als würden wir nicht sehen, dass sie noch ein Ass im Ärmel versteckt hatte.
Mir wird ganz warm ums Herz. Sie war so ein süßes Kind.
»Was hast du angestellt, Amy?«
»Nichts! Die haben so was von total überreagiert.« Amy nimmt ihren Lolly aus dem Mund und seufzt theatralisch. »Ich hab doch nur diese Hellseherin mit zur Schule gebracht.«
»Eine Hellseherin?«
»Na ja.« Hämisch grinsend sieht Amy mir in die Augen. »Diese Frau, die ich in einer Disko kennengelernt habe. Ich weiß nicht genau, wie hellsichtig sie wirklich ist. Aber alle haben es geglaubt. Ich habe zehn Pfund pro Nase kassiert, und sie hat allen Mädchen erzählt, dass sie morgen einen Jungen kennenlernen. Alle waren glücklich. Bis einer von den Lehrern dahintergekommen ist.«
»Zehn Pfund pro Nase?« Ungläubig starre ich sie an. »Kein Wunder, dass du Ärger gekriegt hast!«
»Noch eine Verwarnung und ich fliege von der Schule«, erklärt sie stolz.
»Wie bitte? Amy, was hast du denn noch alles angestellt?«
»Eigentlich nichts! Nur ... in den Ferien hab ich Geld gesammelt, für unsere Mathelehrerin, Mrs. Winters, die im Krankenhaus lag.« Amy zuckt mit den Achseln. »Ich hab gesagt, sie macht es nicht mehr lange, und alle haben gespendet. Über fünfhundert hab ich zusammengekriegt.« Sie schnaubt vor Lachen. »So was von cool!«
»Schätzchen, das nennt man Vorspiegelung falscher Tatsachen.« Mum spielt mit einer Hand an ihren Bernsteinperlen herum, während sie mit der anderen einen der Hunde krault. »Mrs. Winters war sehr aufgebracht.«
»Ich hab ihr immerhin Pralinen geschenkt, oder etwa nicht?«, erwidert Amy ungerührt. »Und außerdem war es noch nicht mal gelogen. Beim Fettabsaugen kann man sehr wohl sterben!«
Mir fehlen die Worte. Ich bin schlicht und einfach geplättet. Wie konnte aus meiner süßen, kleinen Schwester ...so was werden?
»Ich brauch dringend was für meine spröden Lippen«, fügt Amy hinzu und schwingt ihre Beine vom Sofa. »Kann ich mir was von deinem Schminktisch holen?«
»Hm ... klar.« Sobald sie draußen ist, wende ich mich Mum zu. »Was ist los? Seit wann macht Amy solche Sachen?«
»Ach ... in den letzten beiden Jahren.« Mum sieht mich nicht an, spricht stattdessen mit dem Hund auf ihrem Schoß. »Sie ist ein süßes, liebes Mädchen, stimmt‘s, Agnes? Sie kommt nur manchmal vom rechten Weg ab. Ein paar ältere Mädchen haben sie zum Klauen angestiftet... das war nun wirklich nicht ihre Schuld ...«
»Zum Klauen?«, wiederhole ich entsetzt.
»Ja. Nun.« Mum verzieht das Gesicht. »Es war etwas unglücklich. Sie hat die Jacke einer Mitschülerin genommen und ihr eigenes Namensschild reingenäht. Aber sie hat es wirklich sehr bereut!«
»Und ... warum das alles?«
»Schätzchen, das weiß niemand. Sie hat den Tod ihres Vaters nicht so gut verkraftet, und seitdem ... passiert eins nach dem anderen.«
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Vielleicht geraten alle Teenies, deren Väter sterben, hin und wieder auf die schiefe Bahn.
»Da fällt mir was ein. Ich hab was für dich, Lexi.« Mum langt in ihren Leinenbeutel und holt eine schlichte DVD-Hülle hervor. »Das hier ist die letzte Botschaft von deinem Vater. Er hat vor der Operation seine Abschiedsworte aufgezeichnet, für alle Fälle. Die Aufnahme wurde bei der Beerdigung gezeigt. Da du dich nicht daran erinnerst, solltest du sie dir vielleicht ansehen.« Mum reicht sie mir mit zwei Fingern, als wäre sie verseucht.
Ich nehme die DVD und starre sie an. Dads letzte Botschaft. Ich kann immer noch nicht glauben, dass er schon drei Jahre tot sein soll.
»So sehe ich ihn doch noch mal.« Ich drehe die Silberscheibe hin und her. »Ungewöhnlich, dass er sich gefilmt hat.«
»Ja. Na ja.« Mum kriegt wieder diesen nervösen Blick. »Du kanntest ja deinen Vater. Er musste immer im Mittelpunkt stehen.«
»Mum! Bei der eigenen Beerdigung ist das doch wohl völlig in Ordnung!«
Wieder tut sie, als hätte sie mich nicht gehört. Das ist immer ihre Masche, wenn jemand etwas sagt, was ihr nicht gefällt. Sie blendet einfach das ganze Gespräch aus und wechselt das Thema. Und tatsächlich - einen Moment später blickt sie auf und sagt:
»Vielleicht könntest du Amy helfen. Du wolltest ihr doch einen Praktikumsplatz in deinem Büro besorgen.«
»Einen Praktikumsplatz?« Zweifelnd sehe ich sie an. »Mum, ich weiß nicht so recht ...«
Meine Arbeitssituation ist momentan kompliziert genug, auch ohne Amy.
»Nur für ein, zwei Wochen. Du
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