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Kennen Wir Uns Nicht?

Kennen Wir Uns Nicht?

Titel: Kennen Wir Uns Nicht? Kostenlos Bücher Online Lesen
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ihre Taschen auszuleeren, knallt alles nacheinander auf den Couchtisch. Zwei ungeöffnete Feuchtigkeitscremes. Eine Jo Malone-Kerze. Haufenweise Make-up. Ein Parfum-Geschenk-Set von Christian Dior. Wortlos beobachte ich sie dabei, staune über ihre Dreistigkeit.
    »Und jetzt zieh dein T-Shirt aus!«, kommandiert Mum wie ein Zollbeamter.
    »Das ist so was von unfair!«, murmelt Amy. Sie kämpft sich aus ihrem T-Shirt, und mir fällt glatt die Kinnlade herunter. Sie hat sich ein Armani-Trägerkleidchen, das in meinem Schrank lag, in ihre Jeans gestopft. Um ihre Taille hat sie mindestens fünf La Perla-BHs gewickelt, und daran baumeln - wie Glücksbringer an einem Armreif - zwei perlenbesetzte Ausgehtäschchen.
    »Du hast ein Kleid eingesteckt?« Ich muss mir das Lachen verkneifen. »Und BHs!«
    »Na toll. Du willst dein Kleid zurück. Ganz toll.« Sie zieht alles aus und legt es auf den Tisch. »Zufrieden?« Dann blickt sie auf und sieht meinen Gesichtsausdruck. »Ich kann nichts dafür! Mum will mir kein Geld für Klamotten geben!«
    »Amy, das ist Unsinn!«, ruft Mum scharf »Du hast so viele Sachen.«
    »Die sind doch alle von vorgestern!«, schreit sie Mum an, und es scheint, als hätten sie diese Diskussion schon öfter geführt. »Heute trägt man was anderes! Wann merkst du endlich, dass wir im 21. Jahrhundert angekommen sind?« Sie deutet auf Mums Kleid. »Das Teil da ist doch schlimm!«
    »Amy, hör auf!«, sage ich. »Darum geht es hier nicht. Und außerdem passen dir meine BHs noch nicht mal!«
    »BHs kann man auch über eBay verkaufen«, erwidert sie schneidend. »Zumindest so überteuerte Marken-BHs.«
    Sie zieht ihr T-Shirt über, lässt sich auf den Boden sinken und tippt eine SMS in ihr Handy.
    Das Ganze hat mich völlig aus dem Konzept gebracht. »Amy«, sage ich schließlich, »vielleicht sollten wir uns mal unterhalten. Mum, wieso gehst du nicht kurz raus und kochst uns einen Kaffee oder irgendwas?«
    Mum ist völlig aufgelöst und scheint dankbar zu sein, dass sie in die Küche darf. Als sie draußen ist, setze ich mich auf den Boden, Amy gegenüber. Starr sitzt sie da und würdigt mich keines Blickes.
    Okay. Ich muss verständnisvoll und mitfühlend sein. Ich weiß, dass zwischen mir und Amy ein erheblicher Altersunterschied besteht. Ich weiß, dass ich mich an einen Großteil ihres Lebens nicht erinnern kann. Aber wir sind doch Schwestern und verstehen uns, oder?
    »Hör zu, Amy«, sage ich wie eine verständnisvolle, erwachsene, aber immer noch ziemlich coole, große Schwester. »Du kannst nicht einfach so klauen, okay? Du kannst die Leute nicht einfach um ihr Geld bringen.«
    »Leck mich«, sagt Amy, ohne den Kopf zu heben.
    »Du wirst Ärger kriegen. Sie werden dich von der Schule werfen!«
    »Leck ...«, sagt Amy gelangweilt. »Mich. Leck mich, leck mich, leck mich ...«
    »Hör mal!«, sage ich und versuche, Ruhe zu bewahren. »Ich weiß, dass das Leben schwierig sein kann. Und wahrscheinlich bist du mit Mum allein zu Hause ziemlich einsam. Aber wenn du reden willst, egal worüber, wenn du Probleme hast: Ich bin für dich da. Ruf mich an oder schick mir eine SMS, jederzeit. Wir gehen Kaffee trinken oder ins Kino oder ...« Mein Satz erstirbt.
    Amy tippt immer noch mit einer Hand. Die andere hat sie langsam angehoben und zeigt mir das »Loser«-Zeichen.
    »Ach, leck dich doch selbst!«, fahre ich sie wütend an. Blöde Kuh. Wenn Mum glaubt, ich hole Amy für ein Praktikum zu mir ins Büro, dann hat sie sich aber geschnitten!
    Eine Weile schweigen wir uns mürrisch an. Dann greife ich mir die DVD mit Dads Botschaft, rutsche über den Boden und schiebe sie in das Gerät. Der große Bildschirm leuchtet auf, und einen Moment später erscheint das Gesicht von meinem Vater.
    Ergriffen starre ich den Bildschirm an. Dad sitzt auf einem Lehnstuhl und trägt einen plüschigen, roten Hausmantel. Das Zimmer kenne ich nicht - allerdings habe ich ihn auch nie in seinen diversen Wohnungen besucht. Sein Gesicht ist durch die Krankheit ausgemergelt. Es war damals, als würde ihm langsam die Luft ausgehen. Doch seine grünen Augen blitzen, und er hält eine Zigarre in der Hand.
    »Hallo«, sagt er mit heiserer Stimme. »Ich bins. Na ja. Das wisst ihr wohl.« Er lacht kurz auf, dann muss er trocken husten, was er mit einem Zug an seiner Zigarre lindert. Er trinkt einen Schluck Wasser. »Wir wissen alle, dass die Chancen bei dieser Operation fifty-fifty stehen. Ich bin ja selbst schuld, dass ich mit meinem

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