Kerstin Gier 2
gewesen war, auch sehr alt gewesen war, nämlich vierundneunzig Jahre, jetzt im Himmel wohnte. Als er das sagte, füllten sich seine großen blauen Augen zu Tobias’ Entsetzen mit Tränen. »Im Himmel geht es der alten Dame sicher gut!«, versicherte er dem Jungen. »Irgendwann müssen wir alle sterben, das ist leider so. Deine Freundin hat sehr, sehr lange gelebt, das Glück hat nicht jeder.«
Finn wischte sich mit der Hand über die Augen und zog die Nase hoch, ein Geräusch, das Tobias hasste. »Von mir aus hätte sie ruhig noch viel länger leben können. Ich vermisse sie ganz doll.«
»Ja, es ist traurig, wenn jemand, den man mag, nicht mehr da ist«, sagte Tobias, schaute auf seine Armbanduhr und erklärte, dass er jetzt weiter Kisten auspacken und Bilder aufhängen müsse, es gäbe noch viel zu tun, und morgen müsse er wieder zur Arbeit. »Ich könnte Ihnen helfen«, sagte Finn eifrig. »Ich habe Zeit. Der Tante Schuhmacher habe ich auch immer geholfen. Ich hab im Bioladen für sie eingekauft und Blumen gegossen und Staub gesaugt und so.«
»Danke, aber das ist nicht nötig, ich bin erst 35 und komme hervorragend ohne Hilfe klar!«, gab Tobias energisch zurück. Das fehlte noch, dass ihm ein wildfremder Knirps am Hemdzipfel hing! Er hatte keine Kinder und wollte keine, es reichte, wenn sein Bruder drei Sprösslinge in die Welt gesetzt hatte, um den Familiennamen und die Renten in Deutschland zu sichern. Kinder waren laut, entsetzlich anstrengend, teuer im Unterhalt, und es dauerte ewig, bis sie endlich erwachsen und aus dem Haus waren.
Als Tobias die Wohnungstür vor Finns Nase schloss, war er überzeugt, den Jungen erfolgreich vergrault zu haben. Doch am Nachmittag klingelte es wieder, zweimal lang, zweimal kurz, und wieder stand der Steppke vor der Tür, diesmal in Begleitung seiner Mutter, die ihn mit dem gleichen Lächeln wie ihr Sohn anstrahlte und ihm einen Kuchen mit Schokoglasur überreichte. »Herzlich willkommen im Haus!«, sagte sie. »Ich bin Annika Olsen von nebenan. Wir sagen alle ›Du‹ hier, aber wenn du möchtest, können wir uns auch siezen. Finn hat mir erzählt, dass ihr euch schon begrüßt habt und dass er dich nett findet. Der Kuchen ist für dich, es ist ein Marmorkuchen, ich hab ihn selbst gebacken, nach einem Rezept meiner Großmutter.« Ihr Lächeln wurde noch strahlender, und Tobias dachte bei sich, dass der Apfel wahrlich nicht weit vom Stamm fiel: Annika Olsen war eine Plaudertasche, kein Wunder, dass ihr Sohn genauso drauf war. Allerdings sah sie zauberhaft aus mit ihren blonden, schulterlangen Ringellocken und den großen blauen Augen. Auf ihrer Nase und den Wangenknochen entdeckte er Sommersprossen, für die er seit seiner letzten Urlaubsliebe – einer Irin aus Dublin – eine Schwäche hatte.
»Das ›Du‹ ist schon okay«, sagte Tobias, obwohl er es nicht wirklich okay fand, aber er wollte nicht als unfreundlicher Nachbar rüberkommen. Immerhin wohnte die Frau nebenan, man musste miteinander auskommen, und einen Kuchen hatte sie ihm auch gebacken, was eine nette Geste war. »Und, ähm, danke für den Kuchen. Ich würde Sie … dich ja kurz hereinbitten, aber es sieht noch ziemlich schrecklich bei mir aus.«
»Das ist doch völlig normal, wenn man gerade umgezogen ist. Bitte, bitte mich doch rein, ich platze vor Neugier, was du aus der Wohnung gemacht hast. Ich halte dich auch nicht lange auf, versprochen. Es sei denn, du kannst Hilfe beim Auspacken und Einräumen gebrauchen? Ich habe Zeit.«
Ach, du liebe Güte. Noch jemand mit Helfer-Syndrom in dieser Familie. »Das mache ich lieber selbst. Aber danke fürs Angebot.«
»Können wir jetzt reinkommen und gucken?«, erkundigte sich Finn.
»Nein!«, hätte Tobias am liebsten gesagt und hinzugefügt, dass er neugierige Nachbarn nicht ausstehen konnte. Er arbeitete hart im Job und wollte in seinen eigenen vier Wänden seine Ruhe haben. Aber der Marmorkuchen schaute ihn an und flüsterte ihm ins Ohr, dass es gerade einmal fünf Minuten dauern würde, Finn und seine Mutter durch die Wohnung zu führen, und dass fünf der guten Nachbarschaft geopferte Minuten gut angelegte Zeit waren.
Tobias hatte erwartet, dass die beiden jedes Möbelstück kommentieren würden, aber sie sagten keinen Ton zu seiner von einem Innenarchitekten perfekt durchgestylten Einrichtung. Erst am Ende des Durchgangs, nach exakt sieben Minuten, als sie schon wieder im Treppenhaus standen, sagte Finn: »Tante Schuhmann hatte ein Klavier. Aber sie
Weitere Kostenlose Bücher